Wie viel unserer Lebensmittel wollen wir selbst produzieren können? Wie viel Platz braucht also die Landwirtschaft, wie viel darf verbaut werden?
Sollen solche, letzten Endes sogar strategischen, Fragen tatsächlich in den 2.100 kleinsten Körperschaften der Republik, den Gemeinden, entschieden werden? Und kann ein Gemeinderat irgendwo im hintersten Tal alle Folgen bedenken, die es hat, ein neues Siedlungsgebiet samt Zubringerstraßen zu widmen, wenn also etwa plötzlich viel mehr Wasser abgeleitet werden muss, weil es nicht mehr versickern kann – und sich dadurch die Flussdynamik ganzer Landstriche dutzende Kilometer stromabwärts ändert?
Die Verfassung findet: Ja. Artikel 118 Bundes-Verfassungsgesetz, das die Zuständigkeiten der Kommunen regelt, zählt die „örtliche Raumplanung“ nach Absatz 3, Ziffer 9 ganz eindeutig zu jenen Punkten, die die Gemeinde im „eigenen Wirkungsbereich“ zu erledigen hat. Das heißt, dass es primär in der Entscheidungsgewalt der Gemeindepolitik, genauer gesagt des gewählten Gemeinderats liegt, per Verordnung einen Flächenwidmungsplan zu erlassen – und damit festzulegen, wo gebaut werden darf, wo Grünland bleibt, wo Landwirtschaft betrieben werden darf und so weiter.
Das hört sich zunächst lapidar an, hat aber ganz massive Auswirkungen: Weil Bauland naturgemäß weit höheren Wert hat als Grünland, kann der Gemeinderat mit einem Federstrich ganz massive Wertsteigerungen, ja, Vermögen schaffen – oder eben verweigern. Was ein Garant für zahlreiche Interessenkollisionen ist – im Interesse einer Gemeinde liegt etwa, dafür zu sorgen, dass möglichst viele Menschen in ihr leben, junge Familien also leistbaren Wohnraum vorfinden. Ein anderes Interesse wiederum liegt darin, viele Betriebe im Ort zu haben – die natürlich lieber billig als teuer Grund kaufen und bauen. Und zuletzt ist da noch die Frage danach, was ein Eigentümer mit seinem Grund tun darf und was nicht, wer gerne bauen würde, wer einen Baugrund „für die Kinder“ aufheben möchte. All das sind Fragen, die in politische Diskussionen im Gemeindeleben regelmäßig einfließen.
Was dagegen über lange Zeit eher eine untergeordnete Rolle gespielt hat, waren überregionale Überlegungen: Wie viel Platz soll der Landwirtschaft insgesamt bleiben? Wo sollte aus Gründen des Katastrophenschutzes (Hochwasser, Muren, Lawinen) nicht gebaut werden? Sollte man nicht insgesamt eher kompakt und dicht bauen, um sowohl die natürlichen Ressourcen als auch jene der öffentlichen Hand zu schonen – jede neue Siedlung braucht ja Straßen, Wasser-, Strom- und Abwasserleitungen. Wer offenen Auges durch das Land fährt – vor allem in Ostösterreich, wo es wirkt, als ob Platz eine schier unendliche Ressource wäre – sieht, dass dort die ordnende Hand des Staates über Jahrzehnte nicht allzu streng war: Von Bauernhäusern, um die herum ganze Dörfer entstanden sind bis zu Siedlungen aus den 60er und 70er Jahren, um die später millionenteure Hochwasserschutzdämme errichtet werden mussten, findet sich eine lange Liste an Dingen, die man heute als „Verschwendung“ sehen würde.
Dabei ist die Entscheidung, wie Gemeinden ihre Flächen widmen wollen, grundsätzlich nicht allein ihnen überlassen: Den Raumordnungsgesetzen der Länder zufolge (die erst nach und nach beschlossen wurden, als in den 50er und 60er Jahren verstärkte Wohnbautätigkeit einsetzte) muss die Landesregierung als Aufsichtsbehörde jeder Änderung zustimmen – die, so die Idee, eine Vogelperspektive einnehmen und verhindern sollte, dass raumplanerische Absurditäten entstehen. Nur waren die Länder „oft extrem nachgiebig in der behördlichen Genehmigung gegenüber den Gemeinden in der Raumplanung“, findet Gerlind Weber, pensionierte Professorin für Raumplanung an der Universität für Bodenkultur. Man habe sich in den Ländern „oft ganz bewusst den Entscheidungsspielraum offengehalten – sie haben selbst keine Pläne, die wirklich aussagekräftig sind und auch sozusagen die Gemeinden an strenge Zügel nehmen würden“. Man habe häufig geschwiegen „und oft die Gemeinden mit diesen Entscheidungen faktisch allein gelassen“:
Mit dem Ergebnis, dass Österreich im Vergleich zu Deutschland einen hohen Zersiedelungsgrad aufweist: In den Gemeinden, weil oft auf Basis einer „Gefälligkeitsdemokratie“ zugunsten starker Grundeigentümer entschieden wurde, wie es Weber bezeichnet, auf Landesebene, weil die Länder – oft auf Druck der mächtigen Bürgermeister in den herrschenden Parteien – nichts dagegen einzuwenden hatten.
„Die Idee, dass Fläche etwas Endliches ist, hat sich erst in den letzten zehn, 15 Jahren festgesetzt“, sagt Daniel Kosak, Sprecher des Gemeindebundes – auch getragen davon, dass sich Lebensmodelle und die Vorstellungen davon, wie Familien heute leben wollen, geändert hätten. Vieles sei aber „keine intellektuelle Erkenntnis, sondern es geht sich schlicht nicht mehr aus, immer weiter verstreute Siedlungen zu versorgen“. Seither habe auf vielen Ebenen ein Umdenken eingesetzt – allerdings sehe man die Auswirkungen ordentlicher Raumpolitik wegen der Langfristigkeit der Maßnahmen frühestens in 30, 40 Jahren. Flächenwidmungen können in Österreich nämlich nicht verschlechtert werden: Würde eine Gemeinde Bauland als Grünland zurückwidmen, müsste sie dem Eigentümer nicht nur Investitionen, sondern auch die Wertminderung ersetzen, selbst wenn es nur kurz Bauland gewesen wäre.
Dazu kommt, dass die politischen Raumplaner von heute mit großen „Altlasten“ zu kämpfen hätten: Baulandreserven etwa, die sich Eltern mitten im Ort für ihre Kinder aufgehoben hätten, falls diese Jahrzehnte später ein Haus bauen wollen – gegen solche Wiesen mitten im Ort, wo eine Verdichtung planerisch wünschenswert wäre, gibt es bisher wenig Handhabe; wie auch gegen Hausbesitzer, die ihre Immobilien schlicht nicht nutzen. Dazu kommt, dass die Sünden der jahrzehntelang verschwenderischen Raumordnungspolitik hierzulande nicht korrigiert würden – während man sich in Teilen Deutschlands durchaus entschließen würde, manche Landstriche „aufzugeben“, erzählt Kosak: Dörfer, die öffenlich einfach nicht mehr versorgt würden, um den Zug in die Zentren zu begünstigen.
Auch in den Bundesländern hat sich nach und nach die Raumordnungspolitik verschärft – getrieben etwa durch die Schäden, die in „roten“ Hochwasserzonen entstanden sind, verbunden mit der Erkenntnis, wie teuer schlechte Raumplanung langfristig kommt, wurden die entsprechenden Abteilungen nach und nach „schärfer“ besetzt, die Raumordnungsgesetze strenger formuliert. Vorreiter ist hier Salzburg, wo man sich heuer etwa entschlossen hat, ab 2023 eine Infrastrukturabgabe auf ungenutztes Bauland einzuheben – 900 Hektar solcher Reserven gäbe es in Salzburg derzeit; neues Bauland darf nur noch auf zehn Jahre gewidmet werden, dann „verfällt“ es wieder und wird zu Grünland. Neue Widmungen sollen zudem von der Erreichbarkeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln und örtlichem Bedarf abhängig sein.
Ob dieser Trend zur stärkeren Einmischung überregionaler Gremien in die Raumordnung Schule machen wird, wird sich zeigen; tendenziell darf man davon ausgehen, dass mit dem Wegfall absoluter Mehrheiten in Ländern und Gemeinden auch dieses Thema stärker kontrolliert wird.
Korrektur am 13. 11. 2017:
Ursprünglich stand hier „ab 2018 eine Infrastrukturabgabe einzuheben“. Das war insofern missverständlich, als das neue Salzburger Raumordnungsgesetz zwar mit 1. Jänner 2018 in Kraft tritt, die neue Abgabe allerdings erst fällig wird, wenn der betreffende Baugrund fünf Jahre ungenutzt geblieben ist (bzw. 15 Jahre, wenn Eigenbedarf besteht). Diese Frist beginnt mit Inkrafttreten des neuen Gesetzes zu laufen, frühestens wird die Infrastrukturabgabe also erst 2023 eingehoben.
Das war der fünfte Artikel unseres einwöchigen Projekts zu der Frage „Verbrauchen wir zu viel Platz?“. Als Nächstes werden wir uns einem konkreten Beispiel widmen, wie Gemeindepolitik in ein Spannungsverhältnis zu übergeordneten Interessen treten kann – diese aber hintanstehen müssen.