Am Wochenende vor der Angelobung der Abgeordneten, die bei der Nationalratswahl am 15. ein Mandat erlangt haben, platzte die mediale Bombe: Die Presse und das Nachrichtenmagazin Profil publizierten die Vorwürfe einer ehemaligen Mitarbeiterin von Peter Pilz im Grünen Club. Der Abgeordnete habe sie mehrmals sexuell belästigt, insgesamt habe sie gegenüber der Gleichbehandlungsanwaltschaft, an die sie sich mit Unterstützung einer Vertrauensperson im Grünen Klub gewandt habe, 40 einzelne Vorfälle dokumentiert. Die Gleichbehandlungsanwaltschaft sah die Vorwürfe als berechtigt an. Die Wünsche der Betroffenen wurden erfüllt, jener nach Versetzung ebenso wie jener nach Verschwiegenheit. Das Opfer wollte nicht an die Öffentlichkeit und will das heute noch nicht.
Der grünen Klubführung, sagen heute mehrere der damaligen Verantwortungsträger in Klub und Partei, seien aufgrund dieses Wunsches für alle weiteren Maßnahmen, vor allem für einen Ausschluss aus dem Klub, die Hände gebunden gewesen. Man habe Pilz mit den Vorwürfen konfrontiert, ihn auch zum Rücktritt aufgefordert, aber mehr sei rechtlich nicht möglich gewesen – nicht zuletzt deshalb, weil das Verhältnis des Klubs gegenüber einem Abgeordneten nicht dem eines Arbeitgebers gegenüber einem Arbeitnehmer entspreche. Es wäre also, nachdem das mutmaßliche Opfer der sexuellen Belästigung zu strafrechtlichen Schritten nicht bereit gewesen sei, einzig und allein an Peter Pilz selbst gewesen, die politische Verantwortung zu übernehmen und zurückzutreten.
Das ist nämlich das Wesen der politischen Verantwortung, wie sie aktuell in Österreich definiert ist: Sie ist eine moralische Veranstaltung, deren Besuch nicht verpflichtend ist. Und zwar für so gut wie niemanden. Denn neben dem einzelnen Politiker, dessen politische Verantwortung man einmahnen mag, gibt es weitere Akteure, denen man durchaus eine Verantwortung im Umgang mit Themen wie der „Causa Pilz“ zuschreiben könnte. Etwa die Partei, der ein politischer Verantwortungsträger angehört.
Reicht es, den – nach Meinung der Gleichbehandlungsanwaltschaft zu Recht – der sexuellen Belästigung beschuldigten Mandatar zur Rede zu stellen, zum Rücktritt aufzufordern und – so wird es heute von den Grünen Verantwortungsträgern dargestellt – dafür zu sorgen, dass er nicht mehr so weit vorne auf der Nationalratsliste steht? Oder müsste sich eine Partei, die sich den Kampf gegen den Sexismus so auf die Fahnen geschrieben hat wie die Grünen, nicht Wege finden, den Täter zur Verantwortung zu ziehen, ohne das Opfer an die Öffentlichkeit zu zerren, die es vermeiden will?
Wenn man nach der Verantwortung der Partei fragt, muss man sich auch fragen, wie es sein kann, dass man nach der Publikation der „Causa Pilz“ so viele Grüne Mandatare trifft, die einem den Eindruck vermitteln, dass die Karriere des Abgeordneten Pilz als Belästiger genau so bekannt war wie die als Aufdecker. Konnte in einem solche Fall der Opferschutz wirklich schwerer wiegen als das Interesse der Partei, sich eines solchen Mannes politisch zu entledigen – und damit weitere potenzielle Opfer zu schützen? Möglicherweise ist die heutige Darstellung, man habe alles dem Opferschutz untergeordnet, auch nur die einfache Erklärung für ein komplexes Kalkül, das angestellt wurde, nachdem die Rückreihung Pilz’ zwar funktioniert hatte, damit aber nicht das Ende seiner politischen Karriere besiegelt war, weil er seine eigene Liste gründete.
Irgendwann, so würde dieses plausible Kalkül lauten, kommt der Fall ohnehin an die Öffentlichkeit, denn solche Fälle kommen, sobald eine ausreichend große Zahl an Menschen davon weiß, immer an die Öffentlichkeit. Passiert das vor der Wahl, bekommt man die Stimmen, die sonst die Liste Pilz bekommen würde. Passiert es nach der Wahl, implodiert die Liste Pilz, und man kann eventuell ihre Reste einsammeln und dem Grünen Klub einverleiben. Jetzt sieht es zwar so aus, als würde die Liste Pilz implodieren, aber es gibt keinen Grünen Klub, dem man die Reste einverleiben könnte. Damit hatte man vielleicht nicht gerechnet.
Das ist Spekulation. Aber Verantwortungsfragen sind in einer politischen Umgebung, in der es an gesetzlichen Mitteln zur Beschreibung und Zuordnung von Verantwortung fehlt, oder, wenn sie beschrieben und zugeordnet ist, die Mittel zu ihrer Durchsetzung nicht vorhanden sind, immer bis zu einem gewissen Grad Spekulation. Das gilt auch für die Rolle des dritten Teilnehmers an dem Spiel, das in der „Causa Pilz“ gespielt wurde, der Medien. Offenbar gab es schon zu Beginn des Wahlkampfs Gerüchte darüber, dass viele Frauen Peter Pilz mehr oder weniger offen der sexuellen Belästigung beschuldigen, angeblich waren auch mehreren Medien die Inhalte des Verfahrens bei der Gleichbehandlungsanwaltschaft bekannt. Aber es wurde nichts davon veröffentlicht. Warum?
Wieder: Opferschutz. Seriöse Medien berichten über Beschuldigungen nur, wenn sie über überprüfbare Belege verfügen oder über die belastbare Aussage von Zeugen oder Beschuldigern, die bereit sind, ihre Anschuldigungen auch in einem allfälligen Gerichtsverfahren zu belegen und sich dortselbst auch an einem Beweisverfahren zu beteiligen. Oder man verfügt über amtliche Dokumente, die den Vorwurf belegen, in diesem Fall also den Akt aus der Gleichbehandlungsanwaltschaft. Der war, wie es heute heißt, in mehreren Redaktionen vorhanden. Wie kam er dorthin? Wer hat den Akt mit welchem Interesse an wen weitergegeben? Wenn er schon vorhanden war, wieso wurde er nicht veröffentlicht? Wieso wurde überhaupt nie über die vielen Fälle von sexueller Belästigung berichtet, über die nach heutiger offizieller Darstellung ohnehin alle schon immer Bescheid wussten? Opferschutz, sagen die einen. Seriosität, sagen die anderen. Politische Rücksichtnahme auf jemanden, dem man viele gute Geschichten verdankt, sagen Dritte.
Tatsächlich dürfte die Veröffentlichung einiges mit der kurzfristigen gesellschaftlichen Grundstimmung zu tun gehabt haben, die durch die #metoo-Kampagne herrschte und herrscht. Das Öffentlichmachen von Akten der sexuellen Belästigung von mächtigen Männern gegenüber weniger mächtigen Frauen dominierte noch nicht lange die sozialen Medien, als die Causa Pilz an die Öffentlichkeit kam. Der Hashtag hätte zwar, nachdem das Opfer nach wie vor nicht an die Öffentlichkeit gehen wollte, die Berichterstattung also den Opferschutz nicht mehr respektierte, #shetoo heißen müssen, aber die öffentliche Debatte lieferte ein wesentliches Argument, eigentlich das einzige, das für die Veröffentlichung der Causa trotz des Schweigewunschs des Opfers spricht: öffentliches Interesse.
Das öffentliche Interesse, gegen das in medienrechtlichen Angelegenheiten andere Interessen wie der Persönlichkeitsschutz oder auch das Ansehen und das wirtschaftliche Fortkommen von potenziellen Protagonisten der Berichterstattung abgewogen werden müssen, ist zwar ein juristisch gefasster Begriff, aber kein präziser. Was das öffentliche Interesse in einer Angelegenheit genau ist und wie schwer es gegenüber anderen Interessen wiegt – worin, in anderen Worten, die Verantwortung des berichtenden Journalisten besteht –, kann nur von Fall zu Fall entschieden werden. Von einem Gericht, oder vom Presserat, einem Organ der medialen Selbstkontrolle, dessen Prinzipien sich der überwiegende Teil der professionellen Medien in Österreich verpflichtet hat.
Auch mediale Verantwortung ist also ein weites Feld, begrenzt zwar durch einige scharfe Stacheldrahtzäune wie den Persönlichkeitsschutz und den Schutz wirtschaftlicher Interessen, aber immer noch groß genug, um sich dem genauen Blick des Publikums zu entziehen.