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Blackbox EU-Ministerrat
19. November 2017 Politische Verantwortung Lesezeit 7 min
Wie Gesetze im EU-Ministerrat gemacht werden, ist für Außenstehende schwer nachzuvollziehen. Wie die einzelnen Mitgliedstaaten konkret abstimmen, war lange nicht öffentlich zugänglich. Inzwischen kann man, wenn man sich etwas Mühe gibt, das Stimmverhalten nachvollziehen. Bei österreichischen Ministern überrascht das Ergebnis zumeist.
Dieser Artikel gehört zum Projekt Politische Verantwortung und ist Teil 11 einer 12-teiligen Recherche.
Bild: Pressestelle der Europäischen Union

Der Rat der Europäischen Union (auch EU-Rat bzw. EU-Ministerrat) ist das Machtzentrum der EU. Gemeinsam mit dem Europäischen Parlament verhandelt und erlässt er Rechtsakte. Bei Gesetzgebungsverfahren haben die jeweiligen Fachminister sämtlicher Mitgliedstaaten ein Mitspracherecht.

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Immer weniger Gesetze

In den letzten Jahren kommt es kontinuierlich zu einer quantitativ spürbaren Reduzierung der legislativen Arbeit des EU-Rates. So hat der Rat im Jahr 2015 nur noch 149 Verordnungen und Richtlinien erlassen, nach 251 im Jahr davor. Seit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon am 1. Dezember 2009 haben sich die jährlichen gesetzgeberischen Entscheidungen des EU-Rats um mehr als 40 Prozent reduziert.

Genau gegenteilig entwickelt sich die Anzahl anderer Beschlüsse und Empfehlungen, die der Rat in der Regel alleine (also ohne Europaparlament) trifft. Diese nehmen von Jahr zu Jahr kontinuierlich zu.

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Österreichische Präsenz auf Sparflamme

Die Auswertung der Teilnehmerlisten an EU-Räten weist für Österreich eine Besonderheit auf: Österreichische Regierungsmitglieder nahmen nur unterdurchschnittlich oft an EU-Ministertreffen teil. Schlusslichter waren die Minister Schelling und Kurz, die beide bei weniger als der Hälfte „ihrer“ EU-Ministerräte anwesend waren.

Als etwa am 15. November 2016 die EU-Verteidigungsminister über eine künftig engere Ausgestaltung der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) berieten, war Österreichs zuständiger Minister Hans Peter Doskozil auf einem Arbeitsbesuch in Israel. Er ließ sich bei diesem wichtigsten Treffen des Jahres durch Alexander Kmentt, den Ständigen Vertreter im Politischen- und Sicherheitspolitischen Komitee der Europäischen Union, vertreten. Österreich war damit zwar anwesend, aber quasi nur als Teilnehmer zweiter Klasse, denn um im EU-Ministerrat stimmberechtigt zu sein, muss ein Mitgliedsland durch einen Minister oder zumindest einen Staatssekretär vertreten sein.

Keine Entwicklungshilfe

Europa- und Außenminister Sebastian Kurz war im Vorjahr gemäß Bundesministeriengesetz für zwei der insgesamt zehn EU-Ministerratsformationen zuständig: die Räte „Allgemeine Angelegenheiten“ sowie „Außenbeziehungen“. Letzterer beschäftigt sich mit Außenpolitik, wird von der Öffentlichkeit als glamourös empfunden und von Kurz zu immerhin 90 Prozent im Vorjahr auch tatsächlich besucht (wobei die Anwesenheit der EU-28, also aller Mitgliedstaaten, bei 96 Prozent liegt). Anders sieht es jedoch aus, wenn sich die EU-Außenminister in der Unterformation „Entwicklungspolitik“ treffen – da war Österreichs Entwicklungsminister Sebastian Kurz im gesamten Jahr 2016 kein einziges Mal dabei. Er schickte stattdessen den österreichischen Ständigen Vertreter bei der EU, den Botschafter Walter Grahammer. Dieser tat pflichtbewusst – aber ohne Stimmrecht – seinen Dienst inmitten von Ministern und Staatssekretären aus den anderen EU-Mitgliedstaaten.

Besonders auffällig und unverständlich für EU-Insider wirkt die Teilnahme am EU-Ministerrat „Allgemeine Angelegenheiten“. Diese Formation stellt quasi den Maschinenraum der EU dar, hier werden alle wichtigen Politikfelder koordiniert und für den Europäischen Rat, das Gremium der Staats- und Regierungschefs, vor- und nachbereitet. Ob EU-Mehrjahresbudget, Erweiterung oder die Verteilung der milliardenschweren Regionalgelder: Immer ist es der Rat „Allgemeine Angelegenheiten“, der entscheidet und die Weichen stellt.

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Die Teilnahme der österreichischen Minister

Im Jahr 2016 hat Sebastian Kurz nur an 22 Prozent dieser Sitzungen teilgenommen. Der Durchschnitt der EU-28, also aller Mitgliedstaaten, lag im Vergleich dazu bei über 80 Prozent Ministeranwesenheit.

Was dabei besonders überrascht, ist aber auch die Tatsache, dass – zumindest soweit es die Vorarbeiten für den Europäischen Rat angeht – hier eine Mitkompetenz des Bundeskanzleramts bestünde. Es wäre dem Bundeskanzler also jederzeit möglich gewesen, durch die Entsendung seiner Staatssekretärin oder seines Kanzleramtsministers eine rechtskonforme Teilnahme Österreichs am EU-Ministerrat „Allgemeine Angelegenheiten“ sicherzustellen. Stattdessen hat im Jahr 2016 jedoch der bereits erwähnte Ständige Vertreter in Brüssel die zweifelhafte Ehre, zwischen Minister und Staatssekretären anderer Länder Österreich quasi „auf Sparflamme“ zu repräsentieren. An diesem Dauerzustand scheint sich in der österreichischen Bundesregierung wie auch in der österreichischen Innenpolitik niemand wirklich zu stoßen.

Vorbild Rupprechter

Dass es durchaus möglich ist, anwesend zu sein, zeigen andere Regierungsmitglieder. Andrä Rupprechter schaffte als Umweltminister 100 Prozent Teilnahme an den Sitzungen des EU-Umweltministerrats. Im EU-Landwirtschaftsrat nahm er übers Jahr an fast 90 Prozent der Sitzungen teil. Auch Alois Stöger nahm an 100 Prozent der Treffen der Rates „Beschäftigung und Soziales“ teil. Die Ratsformation „Justiz und Inneres“ teilen sich der Justiz- und der Innenminister. Gemeinsam kommen sie auf 88 Prozent korrekte Teilnahme an „ihrem“ EU-Ministerrat. Auch der damalige Vizekanzler Reinhold Mitterlehner schaffte beachtliche 100 Prozent für sein Ressort. Die Treffen des EU-Außenrates in der Formation „Außenhandel“ nahm er alle selbst wahr, zu den Treffen des EU-Ministerrates „Wettbewerb“ schickte er durchgehend seinen Staatssekretär Harald Mahrer. Auch in den beiden übrigen Ministerratsformationen „Verkehr, Telekommunikation und Energie“ sowie „Bildung, Jugend und Kultur“ schafften die zuständigen österreichischen Minister eine EU-Präsenz von rund 70 Prozent übers Gesamtjahr 2016 gesehen.

Überraschung Schelling

Eine Überraschung stellt die Teilnahmefrequenz von Finanzminister Hans Jörg Schelling im wichtigen EU-Rat „Wirtschaft und Finanzen“ (ECOFIN) dar: magere 40 Prozent im Jahr 2016. Man hätte erwarten können, dass angesichts der anhaltenden Wirtschafts- und Finanzturbulenzen der zuständige Minister jede sich ergebende Möglichkeit nutzt, sich mit seinen EU-Kollegen zu treffen und Entscheidungen zu fällen. Stattdessen hat es der mächtige Minister offensichtlich vorgezogen, den bereits von Sebastian Kurz arg mit Beschlag belegten damaligen Botschafter Walter Grahammer oder gleich den Finanz-Sektionsschef Harald Waiglein nach Brüssel zu schicken.

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Österreichische Alleingänge

In den seltenen Fällen, in denen Österreich im EU-Ministerrat gegen etwas ist, passiert das oft im Alleingang. Das heißt, mit der an den Tag gelegten Gegenposition ist Österreich dann auch noch auf sich allein gestellt. Ob das daran liegt, dass die Gegenposition in Fällen eingenommen wird, die für andere Staaten einfach unverständlich ist (wie etwa beim „Glyphosat-Alleingang“ am 9. Oktober 2017) oder ob man es schlichtweg verabsäumt, im Vorfeld eines EU-Ministerrats Koalitionen mit anderen Staaten zu schmieden, sei dahingestellt.

Als die beiden Top-Alleingänge der jüngeren Vergangenheit gelten jedenfalls die Blockade der Verlängerung der Syrien-Sanktionen sowie die einsame Gegenwehr gegen Schlussfolgerungen zur Erweiterung/Nachbarschaftspolitik (weil man dies als einziger Mitgliedstaat mit der Türkei-Frage verbinden wollte).

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Im Mai 2013 konnten sich die EU-Außenminister über mögliche Waffenlieferungen an die Rebellen in Syrien nicht einigen. Österreichs damaliger Außenminister Michael Spindelegger beharrte einsam und bis zum Schluss darauf, dass keinerlei Waffenlieferungen an wen auch immer in Syrien erlaubt werden dürfen. Diese Blockade hatte zur Folge, dass das bestehende Exportembargo in seiner Gesamtheit nicht über den 31. Mai 2013 hinaus verlängert werden konnte (da dafür Einstimmigkeit erforderlich ist). Das Ergebnis war, dass ab 1. Juni 2013 jedes EU-Mitgliedsland selbst darüber entscheiden konnte, welche Waffen es an wen in Syrien abgibt. Eine gemeinsame Position der EU in dieser Frage wurde damit torpediert. Österreichs Alleingang wurde als falsch verstandene Prinzipienreiterei interpretiert.

Mitte Dezember 2016 blockierte Österreich im Alleingang Schlussfolgerungen des EU-Rats zur EU-Erweiterung und verlangte stattdessen das Einfrieren der Beitrittsgespräche mit der Türkei. Dieses Junktim wiederum lehnten alle anderen EU-Staaten ab. Diese besonders in Österreich von vielen bejubelte einsame Blockadepolitik stellte sich jedoch als Pyrrhussieg heraus. Die vielseitigen Schlussfolgerungen wurden unvollendet im Schlusskommuniqué des EU-Rats abgedruckt. Statt „Schlussfolgerungen des EU-Rats“ nannte man sie einfach „Schlussfolgerungen des Vorsitzes“, der die übereinstimmende Meinung aller mit Ausnahme eines Mitgliedstaats zusammenfasste.

Anhaltende Konsenskultur

Seit Jahren anhaltend bemerkenswert bleibt das Abstimmungsverhalten der einzelnen Mitgliedstaaten im Rat der Europäischen Union. In der öffentlichen Wahrnehmung geht man – angesichts der Vielzahl von Krisen (Flüchtlingskrise, Eurokrise) – von einer zunehmenden Spaltung der im Rat vertretenen Staaten aus.

Doch abgesehen von vereinzelten kontroversen Entscheidungen (etwa der Entscheidung über einen Verteilungsschüssel für 160.000 Flüchtlinge auf die Mitgliedstaaten), halten die Mitgliedstaaten robust an der langjährigen Konsenskultur fest.

Analysiert man etwa die 83 im Jahr 2015 vom Rat veröffentlichten Abstimmungsprotokolle, so fällt auf, dass trotz eines möglichen Mehrheitsprinzips rund 65 Prozent der Beschlüsse weiterhin einstimmig getroffen wurden. Bei weiteren 18 Prozent der Beschlüsse gab es nur Enthaltungen und keine formellen Gegenstimmen. Dies entspricht weitgehend der Verteilung der letzten Jahre, in denen die Anzahl der trotz Mehrheitsprinzip einstimmig getroffenen Beschlüsse konstant zwischen 63 und 66 Prozent lag.

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Das Prinzip heißt Kompromiss

Das grundsätzliche Prinzip, selbst bei umstrittensten Fragen noch einen möglichst für alle Mitgliedstaaten tragbaren Kompromiss im EU-Rat zu suchen, funktioniert offenbar weiterhin.

Nur bei drei der 38 Abstimmungen gab es drei oder mehr Gegenstimmen. Selbst mit Blick auf das Abstimmungsverhalten der EU-Mitgliedstaaten ergeben sich keine Auffälligkeiten. Das war in den Vorjahren noch anders, da war regelmäßig Großbritannien das mit Abstand am häufigsten überstimmte Land. Auch eine allenfalls erwartete oder befürchtete Blockadepolitik von nationalen Regierungen mit EU-skeptischen Parteien lässt sich bis zur Jahresmitte 2017 nicht erkennen.

Drei Enthaltungen

Österreich hat sich in diesem Zeitraum lediglich einmal der Stimme enthalten – nämlich bei der Richtlinie (EU) 2017/1132 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. Juni 2017 über bestimmte Aspekte des Gesellschaftsrechts. Österreich war bei dieser Abstimmung die einzige Enthaltung. Alle anderen Mitgliedstaaten stimmten zu. Die Enthaltung war gleichzeitig nicht von so großer Bedeutung, dass Österreich etwa – wie in solchen Fällen meistens üblich – eine schriftliche Erklärung über seine Bedenken dem Protokoll anfügte.

Auffällig ist nur die massive Zunahme bei Rechtsakten ohne Gesetzescharakter. Davon wurden im ersten Halbjahr 2017 beachtliche 333 angenommen.

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Der Rat der EU (auch EU-Rat bzw. EU-Ministerrat) verhandelt und erlässt bekanntlich EU-Rechtsakte. Er ist das zentrale Beschlussfassungsorgan der EU. Gemeinsam mit dem Europäischen Parlament verhandelt und erlässt er Rechtsakte meistens im Rahmen des sogenannten ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens, auch Mitentscheidung genannt. Dieses Beschlussverfahren gilt für Politikbereiche, in denen die EU über die ausschließliche Zuständigkeit verfügt oder sich die Zuständigkeit mit den Mitgliedstaaten teilt. In diesen Fällen erlässt der EU-Rat die Rechtsvorschriften auf Grundlage von Vorschlägen der Europäischen Kommission.

Ausblick auf die Ratspräsidentschaft

Für Österreichs Verhalten im EU-Ministerrat verfestigt sich der Eindruck, dass man nur in ganz wenigen Ausnahmefällen vom allgemeingültigen Konsensprinzip abweicht. Wenn man dies jedoch tut, dann offensichtlich eher irrational und ohne Rückhalt durch andere Mitgliedstaaten. Das größere und wohl auch schwerwiegendere Problem ist die teilweise laxe Teilnahme an einzelnen EU-Ratsformationen. Das erweckt den Eindruck von Respektlosigkeit den anderen EU-Partnern gegenüber. Und es lässt Rückschlüsse auf ein mangelndes Problembewusstsein im Hinblick auf die österreichische EU-Ratspräsidentschaft ab dem 1. Juli 2018 zu. Wer sich nur sporadisch in Brüssel blicken lässt, kann dann nicht einfach den Vorsitz übernehmen und darauf hoffen, dass die anderen EU-Mitgliedstaaten einem vertrauen. 

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