Was haben Priester, Herrscher, Militärs, Richter, Politiker und Beamte gemeinsam? Man kann ihnen Fragen stellen. Und derjenige, der sich selbst als befugter Fragesteller betrachtet, erwartet eine Antwort. Dieses Prinzip findet sich nicht nur im deutschen Wort „Verantwortung“, das seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts im Sprachgebrauch nachweisbar ist, sondern auch in vielen anderen Sprachen: Responsibility, responsabilité, reponsabilità etc. – aus all diesen Begriffen kann die Wortfolge „Antwort geben“ abgeleitet werden. Ob man eine zufriedenstellende Antwort bekommt, ist jedoch eine andere Geschichte. Und ist die Antwort nicht zufriedenstellend, beginnt die Suche nach den Verantwortlichen, um jemanden zur Verantwortung ziehen zu können.
Wir alle kennen allerdings Situationen, in denen eine Frage unter Verweis auf etwas anderes oder jemand anderen nicht beantwortet wird. Priester verweisen auf einen Glauben, Herrscher auf die Geschichte, Militärs auf Befehle, Politiker auf ihre Gegner, Richter auf Gesetze, Beamte auf (andere) Zuständigkeiten. In all diesen Situationen stellt sich die Frage: Wer ist jetzt eigentlich verantwortlich?
Die Schrecken des Zweiten Weltkriegs und die Gräueltaten der Nationalsozialisten führten vor Augen, dass die Frage nach der Verantwortung manchmal schwer zu beantworten ist. Damals brach etwa in der christlichen Theologie die Diskussion um die sogenannte „Theodizee“ erneut auf. Darunter versteht man die Frage, wie ein Gott, der einerseits allmächtig und andererseits gut ist, Gräueltaten wie jene des Holocaust zulassen kann. Es geht also um die Rechtfertigung Gottes und damit auch darum, ob man ihn in letzter Instanz für das Geschehene verantwortlich machen kann. Das Alter der Debatte belegt ihre Schwierigkeit.
Einfach machten es sich hingegen jahrhundertelang Herrscher, die ihre Stellung mit der Berufung auf einen Glauben begründeten. Man spricht vom sogenannten „Gottesgnadentum“. Das traf etwa auf die Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation zu, die als Ausdruck dessen auch vom Papst gekrönt wurden. Die Verantwortung lag damit in letzter Instanz bei Gott. Praktischerweise konnte man Gott nicht vor Gericht stellen.
Sehr wohl vor Gericht standen die obersten Nationalsozialisten in den „Nürnberger Prozessen“. Auch bei diesen war die Frage nach der Verantwortung zentral.
In den Nürnberger Verfahren wurden die Verbrechen der Nazi-Herrschaft durch einen von den Alliierten eingerichteten Ad-hoc-Strafgerichtshof zumindest teilweise strafgerichtlich aufgearbeitet. Im international bekanntesten Teil dieser Prozesse wurden 24 Köpfe der nationalsozialistischen Führung, unter ihnen Hermann Göring, Rudolf Heß und Ernst Kaltenbrunner, verurteilt, 12 von ihnen zum Tod.
Im Rahmen dieser Prozesse wurde vonseiten der Angeklagten immer wieder argumentiert, sie hätten gutgläubig gehandelt, nur Befehle ausgeführt und selbst keine der Gräueltaten begangen. Die Verantwortung wurde von ihnen nicht übernommen. Das konnte so freilich nicht akzeptiert werden, und so wurden alle der 24 Hauptangeklagten – neben anderen Anklagepunkten wie „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ – auch wegen „Verschwörung“ vor Gericht gestellt. Es genügte die Mitgliedschaft zu einer „verbrecherischen Organisation“, um für die in deren Namen begangenen Taten zur Verantwortung gezogen werden zu können. Durch die Heranziehung dieser Tatbestände war es für eine Verurteilung nicht mehr unbedingt erforderlich, den Angeklagten etwa selbst gesetzte Tötungsakte nachzuweisen. Sie waren, als „Köpfe“ der NSDAP, auch für solche Taten anderer verantwortlich. Und umgekehrt konnten sie auch nicht mit „einer bloßen Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ im Sinne Carls von Clausewitz argumentieren.
Geht es um die Verantwortung für andere und für die Vergangenheit, kommt man an einem Namen nicht vorbei: Hannah Arendt. Als Jüdin rechtzeitig vor den Nazis geflohen, beschäftigte sie sich als eine der wichtigsten Intellektuellen des 20. Jahrhunderts unter anderem auch mit dem Begriff der Verantwortung. Dabei kann sie allerdings nicht nur im Sinne eines politischen Aktivismus, dem wir alle verpflichtet sind, verstanden werden. Vielmehr geht es ihr auch um die (kollektive) Verantwortung für Handlungen und Ereignisse – und zwar sogar dann, wenn man sie nicht kontrollieren oder gar antizipieren kann. Damit besteht sie auch für vor unserer Zeit Geschehenes, für die Vergangenheit.
Wir springen in die Gegenwart: Die Affäre rund um Peter Pilz. Der frühere Nationalratsabgeordnete der Grünen war bei der Nationalratswahl vom 15. Oktober 2017 mit einer eigenen Liste angetreten, nachdem ihm seine alte Partei den gewünschten Listenplatz versagt hatte. Prompt schaffte er den Einzug. Wenige Wochen später war der Siegeszug aber auch schon wieder Geschichte: Pilz wurde in mehreren Fällen sexuelle Belästigung vorgeworfen. Nach einem relativ zügig erklärten „Rücktritt“ und einer wenige Tage später erfolgten Relativierung nahm Pilz schließlich doch den Hut: Er teilte mit, das Nationalratsmandat nicht anzunehmen. Er übernahm somit die Verantwortung. Wofür genau, dürfte noch Gegenstand intensiver Aufarbeitung werden, durch die Gleichbehandlungskommission oder in allfälligen Gerichtsverfahren.
Ein weiterer Polit-Skandal war erst kürzlich in aller Munde: Im Rahmen des Wahlkampfs erregte die Affäre rund um den Politikberater Tal Silberstein die Gemüter. Der Vorwurf lautete, er habe mit seinem Team unter anderem die Facebook-Seiten „Wir für Sebastian Kurz“ und „Die Wahrheit über Sebastian Kurz“ betrieben, die unter anderem antisemitische Inhalte enthielten. Außerdem sollen die Geldflüsse zur Finanzierung der fragwürdigen Kampagne aus dem Umfeld der SPÖ stammen. So weit die Kürzestversion der Vorwürfe. Daraufhin trat der Wahlkampfleiter der SPÖ, Georg Niedermühlbichler, zurück und übernahm damit (einen Teil der) Verantwortung. Es wird wohl noch eines langen Aufarbeitungsprozesses bedürfen, bis wirklich alle Details der Affäre geklärt sein werden – wer was wann beauftragt, bezahlt und gewusst hat. Aber unabhängig davon hat Niedermühlbichler als Leiter eines Teams die Verantwortung dafür übernommen, was im „Kompetenzbereich“ dieses Teams passiert ist – beziehungsweise in diesem gelegen wäre.
Apropos Kompetenzen: Man könnte ja der naiven Annahme sein, dass derjenige, der die Kompetenz zur Einhebung einer Abgabe hat, diese dann auch wieder ausgeben darf. Weit gefehlt: Die Kompetenz zur Einhebung der sogenannten „gemeinschaftlichen Bundesabgaben“, die rund 86 Prozent des gesamten österreichischen Abgabenaufkommens ausmachen, liegt beim Bund. Erst in einem weiteren Schritt werden diese auf Bund, Länder und Gemeinden aufgeteilt, und zwar im sogenannten Finanzausgleich auf Basis des Finanzausgleichsgesetzes. Hinzu kommen Vereinbarungen gem. Art. 15a Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG), die zwischen Bund und Ländern über weitere Angelegenheiten ihres Wirkungsbereichs getroffen werden. So etwa über die Kostentragung im Rahmen der Flüchtlingskrise oder der Mindestsicherung – Letztere ist zwischenzeitlich jedoch ausgelaufen.
Das bedeutet, dass Länder und Gemeinden für das Ausgeben von Steuergeldern verantwortlich sind, die sie nicht eingehoben haben. Und vice versa dass der Bund für das Einheben von Steuergeldern verantwortlich ist, die er dann nicht ausgibt.
Wenn es um die Verantwortung für die Verwendung von Steuergeldern geht, so geht es um eine Verantwortung für Zukünftiges. Diese forderte bereits der deutsche Philosoph Hans Jonas (1903–1993), nicht zuletzt mit seinem Hauptwerk „Das Prinzip Verantwortung“ ein – Stichwort „Technikfolgenabschätzung“. Die Folgen des eigenen Handelns müssten demnach für zukünftige Generationen berücksichtigt werden. Ob ein Auseinanderklaffen zwischen Einnahmen- und Ausgabenkompetenz bei Abgaben dafür geeignet ist, darf bezweifelt werden.
Was haben Priester, Herrscher, Militärs, Richter, Politiker und Beamte noch gemeinsam? Sie haben Autorität. Und Autorität impliziert Macht.
Paul Verhaege zufolge beruht Autorität auf einer externen Quelle, an die man glaubt und der man sich freiwillig unterwirft. Diese Quelle liegt außerhalb des Individuums und wird von der Mehrheit akzeptiert. Daraus kann Autorität eines Individuums oder auch einer Institution entstehen. Und damit hat dann jemand oder etwas das Sagen über jemand anderen oder etwas anderes.
Aber was passiert, wenn das Individuum oder die Institution die Autorität nicht zur Zufriedenheit der Mehrheit, von der sie die Verfügungsgewalt zugewiesen bekommen hat, ausübt? Die Autorität wird ihr wieder entzogen und an etwas anderes oder jemand anderen übertragen. Die Verantwortungsinstanz macht das Verantwortungssubjekt für einen zu verantwortenden Sachverhalt verantwortlich. Man stellt also Fragen, deren Beantwortung man wünscht – und entzieht ihr dadurch die der Autorität innewohnende Macht, wenn die Antworten nicht zufriedenstellend ausfallen. Womit wir wieder am Anfang der Geschichte angekommen wären.
Fazit: Der Verantwortungsbegriff ist äußerst vielschichtig. Es ist daher wohl sinnvoller, nicht von „der Verantwortung“ zu sprechen, sondern von Verantwortung in bestimmten Bereichen und in gewissen Zusammenhängen. Etwa von „moralischer“ und „sozialer“ Verantwortung. Von Verantwortung für Handlungen, Überzeugungen oder emotiven Einstellungen. Von individueller, institutioneller und kollektiver Verantwortung. Oder auch von politischer und rechtlicher – aber das ist eine andere Geschichte.