Seit Beginn der 26. Gesetzgebungsperiode des Nationalrats, also seit beinahe einem Jahr, wertet Addendum die Anwesenheit der Abgeordneten bei Abstimmungen aus. Dabei fotografiert unser Politometer-Team den Saal bei jeder Sitzung und wertet anschließend die Aufnahmen aus.
Aus der Anwesenheit alleine lässt sich das Arbeitspensum eines Abgeordneten freilich nicht ableiten. Medien machen aber gerne Schlagzeilen über faule und fleißige Abgeordnete. Anfragen und Reden werden zusammengezählt oder gegeneinander aufgewogen.
Dabei lässt sich der Fleiß eines Volksvertreters nicht messen wie der eines Stückarbeiters. Trotzdem sagen die erhobenen Zahlen etwas aus. Wie häufig jemand im Plenum des Nationalrats zu Wort kommt und wie lange er spricht, ist beispielsweise ein Hinweis auf seine Stellung innerhalb seines Parlamentsklubs.
Die Anwesenheit bei Abstimmungen wiederum zeigt zumindest, wie viel Zeit ein Abgeordneter in seine Hauptaufgabe, die parlamentarische Willensbildung, investiert. Anwesenheiten verraten freilich nichts darüber, wie intensiv jemand zuhört oder sich im Vorfeld der Abstimmung mit der Materie beschäftigt hat.
Die Grafik wurde am 16.10.2018 aktualisiert, da Frau Petra Wagner (FPÖ) bei zwei Abstimmungen irrtümlich als abwesend gewertet wurde. Korrekterweise kommt sie nun auf 99.6% Anwesenheit. Wir danken für den Hinweis.
Die am häufigsten anwesende Abgeordnete ist, wie bereits bei der letzten Politometer-Erhebung im Juli, Irmgard Griss (NEOS). Sie hat an 99,8 Prozent aller Abstimmungen teilgenommen. Den zweiten Platz belegen nun ex aequo Rudolf Taschner (ÖVP) und Petra Wagner (FPÖ). An den Parteizugehörigkeiten in der Top-Ten-Platzierung hat sich hingegen nichts geändert: Es dominieren FPÖ (5), ÖVP (3) und NEOS (2).
Bei der Anwesenheit der Klubs insgesamt haben sich alle Parteien bis auf die SPÖ leicht verschlechtert, die FPÖ hat die Liste Pilz jedoch von Platz zwei verdrängt. Die ÖVP-Mandatare waren im ersten Jahr der XXVI. Gesetzgebungsperiode mit 89,1 Prozent bei den meisten Abstimmungen anwesend, die SPÖ belegt mit 79,4 Prozent wie schon im Juli den letzten Platz.
Christian Kern hat seine Anwesenheit seit Juli jedoch um über 16 Prozentpunkte verbessert, liegt aber mit 47,6 Prozent immer noch abgeschlagen auf dem letzten Platz unter den Klubobleuten. Leicht verbessern konnte sich Matthias Strolz (NEOS), leicht verschlechtert hat sich die Teilnahme an den Abstimmungen bei FPÖ-Klubobmann Walter Rosenkranz. August Wögingers Anwesenheit blieb zwar stabil, er wurde aber vom neuen Klubobmann der Liste Pilz, Wolfgang Zinggl, vom ersten Platz verdrängt.
Selbst aus der Anzahl der Anfragen lässt sich grundsätzlich kein bestimmter Arbeitsethos ableiten. Dass ein Abgeordneter viele schriftliche Anfragen stellt, kann auf Serienanfragen zur Handynutzung in den Ressorts oder zu deren Flugkosten zurückzuführen sein. Manche Anfragen verlaufen auch im Sand: 674 wurden in der aktuellen Gesetzgebungsperiode gestellt, 256-mal verweigerten die Mitglieder der Bundesregierung zumindest teilweise die Antwort, weil die Fragen nicht ihren Zuständigkeitsbereich beträfen.
Die Qualität mancher Anfragen hat in der Vergangenheit auch gezeigt, dass ihre Zahl alleine nichts über qualitative parlamentarische Arbeit aussagt. So gehörte der ehemalige Freiheitliche Rupert Doppler in der 25. Gesetzgebungsperiode zu den Abgeordneten, die die meisten Anfragen stellten. Er fragte aber unter anderem alle Regierungsmitglieder nach der Anwendung eines Gesetzes, das noch nicht in Kraft war und für das nur der Außenminister verantwortlich zeichnete.
Dennoch lässt die Verteilung der Anfragen zumindest gewisse Rückschlüsse auf die Arbeitsverteilung innerhalb der Opposition zu. Fast die Hälfte aller mündlichen und schriftlichen Anfragen, die im ersten Jahr der ÖVP-FPÖ-Regierung an diese gerichtet wurden, entfällt auf nur zehn Abgeordnete. Zwei davon, Nikolaus Scherak und Gerald Loacker, stellten zusammen gar zwölf Prozent aller parlamentarischen Anfragen.
Die SPÖ-Abgeordneten stellten gemeinsam die meisten Anfragen, allerdings kamen von den NEOS mehr als halb so viele, obwohl sie nur über ein Fünftel der Abgeordneten verfügen. Aber auch hier gilt: Die Masse allein sagt nichts über die Qualität.
Die Abgeordneten der Regierungsparteien stellen naturgemäß weniger Anfragen. Sowohl ÖVP als auch FPÖ stellten gerade einmal zehn Prozent der Anfragensumme der Liste Pilz. Den Koalitionsparteien geht es schließlich nicht darum, die Regierung zu kritisieren. Brauchen sie Informationen, haben sie über die Parteikanäle informelle und direkte Zugänge zu den Ministerien.
Ähnliches gilt für die eingebrachten Gesetzesanträge. Die Regierungsparteien bringen die allermeisten Anträge als Regierungsvorlagen in den Nationalrat ein. Nur selten werden die Abgeordneten der Regierungsklubs als Gesetzgebungsproponenten benötigt. In der aktuellen Gesetzgebungsperiode wurden 56 Regierungsvorlagen und nur 16 gemeinsame Anträge von Abgeordneten von ÖVP und FPÖ eingebracht, teilweise gemeinsam mit Oppositionsparteien.
Der Opposition allerdings stehen nur die Gesetzesinitiativen von Abgeordneten zur Verfügung. Für sie sind Anträge wie Anfragen ein Mittel, um ihren Positionen öffentliche Aufmerksamkeit zu verschaffen – auch wenn meist klar ist, dass sie abgelehnt werden.
Entsprechend häufiger bringen Oppositionsabgeordnete Selbstständige Anträge ein, die dann von der Regierungsmehrheit in den Ausschüssen oft auf die lange Bank geschoben werden. Während alle Anträge von Regierungsabgeordneten angenommen wurden, ist über die meisten Initiativen der Opposition im Plenum des Nationalrats noch nicht endgültig abgestimmt worden.
Dass wenige Abgeordnete viele Anträge einbringen, hat zum Teil tatsächlich etwas mit Arbeitseifer zu tun. Andererseits spielt auch die Zuständigkeit innerhalb des Klubs, zum Beispiel als Wehr-, Sozial- oder Umweltsprecher, eine Rolle. Die Regierung gibt vielfach die Themen vor, auf die die jeweiligen Sprecher mit Anträgen reagieren.
Die Oppositionsparteien stimmen immer wieder mit der Regierung, auch wenn sie die betreffenden Anträge nicht selbst eingebracht haben. So wurden Materien wie das Heimopfergesetz oder das Schülervertretungsgesetz einstimmig beschlossen. Eine beträchtliche Anzahl an Regierungsvorlagen steht außer Streit, weil damit auf juristische, zeitliche oder technische Entwicklungen reagiert wird, die allgemein anerkannt sind.
Die Opposition stimmt diesen Vorlagen daher regelmäßig zu. Die Zusammenarbeit der einzelnen Oppositionsparteien mit der Regierungsmehrheit ist aber nicht gleich intensiv und lässt sich quantifizieren: Während Liste Pilz und SPÖ wesentlich seltener mit ÖVP und FPÖ stimmten, gingen die NEOS in 64 Prozent der Abstimmungen mit der schwarz-blauen Mehrheit mit.
Die NEOS haben angekündigt, die Regierung in Zukunft härter anfassen zu wollen, bisher waren sie, zumindest was das Stimmverhalten betrifft, tatsächlich die zahmste Oppositionspartei.
Wie schon bei der ersten Politometer-Auswertung reden die Frauen im Nationalrat auch über das ganze erste Jahr der 26. Gesetzgebungsperiode betrachtet weniger als ihre männlichen Kollegen. Im Vergleich zur ersten Messung im Juli hat ihre Redezeit insgesamt sogar noch um fast zwei Prozentpunkte abgenommen.
Die 35,5 Prozent weiblichen Abgeordneten nehmen vor dem Plenum nur 31,8 Prozent der Gesamtredezeit in Anspruch, ein Wert, der sich durch die Übernahme der Parteiführung von SPÖ und NEOS durch Pamela Rendi-Wagner und Beate Meinl-Reisinger in Zukunft wohl verbessern dürfte.
Derzeit sind die Rednerinnen in allen Klubs außer bei den NEOS und der Liste Pilz, wo ihre Redezeit genau ihrem Anteil an den Mandataren entspricht, aber noch unterrepräsentiert. Nicht nur bei der Länge, auch bei der Anzahl der Reden dominieren die Männer mit Zweidrittelmehrheit.
Christian Kern (SPÖ) liegt in der Rangliste der Abgeordneten, die an den wenigsten Abstimmungen teilnehmen, mittlerweile nur mehr auf Platz drei. Zwischenzeitlich hatte er sie sogar angeführt. Platz zwei belegt Gewerkschaftschef Wolfgang Katzian (SPÖ), der nun seinen Abschied vom Nationalrat nimmt. Josef Schellhorn (NEOS) nahm im vergangenen Jahr an den wenigsten Abstimmungen teil – er war bei 23,6 Prozent anwesend.
Im Interview mit Addendum versucht Schellhorn seine Fehlzeiten im Nationalratsplenum zu erklären:
Was die Anwesenheit bei Abstimmungen betrifft, verteilen sich die Fehlenden in den einzelnen Klubs höchst unterschiedlich. Das zeigt bereits die Grafik mit den jeweiligen „Spitzenreitern“. Bruno Rossmann, der Pilz-Abgeordnete mit der schlechtesten Anwesenheit (82 Prozent), wäre bei der SPÖ beispielsweise immer noch im Mittelfeld.
Auffallend ist, dass die ÖVP als Partei von Bundeskanzler Sebastian Kurz weniger Redezeit in Anspruch nimmt als die zweitstärkste Kraft im Nationalrat, die SPÖ.
Der Umstand lässt sich zwar teilweise auf ein erhöhtes Redepensum bei dringlichen Anfragen zurückführen, die ÖVP-Abgeordneten haben im vergangenen Parlamentsjahr aber beinahe vier Stunden weniger gesprochen als ihre Kollegen von der SPÖ. Die FPÖ-Mandatare sprachen gar um mehr als sechs Stunden weniger als die Sozialdemokraten, obwohl ihre Partei über nur einen Sitz weniger im Nationalrat verfügt.
Ist ein Abgeordneter, der viel Redezeit vor dem Plenum hat, fleißiger als andere? Kleinere Klubs erhalten verhältnismäßig mehr Redezeit, die unter weniger Abgeordneten aufgeteilt werden muss. Naturgemäß findet man die Vielredner daher in den Reihen der kleinen Oppositionsparteien.
Die Spitzereiter sind dabei, je nach Betrachtungswinkel, Bruno Rossmann (Pilz) und Gerald Loacker (NEOS). Rossmann hat mit 3:22 Stunden insgesamt 19,9 Prozent der gesamten Redezeit seines Klubs auch insgesamt am meisten gesprochen. Loacker hat mit 43 Reden die meisten Einzelansprachen gehalten – zehn mehr als der Zweitplatzierte Nikolaus Scherak (NEOS) und 18,6 Prozent aller Reden seines Klubs.
Unter den zehn Rednern mit der meisten Redezeit waren mit Claudia Gamon (NEOS, 2:26 Stunden) und Daniela Holzinger-Vogtenhuber (Pilz, 2:22 Stunden) nur zwei Frauen.
Wann und wie viel ein Abgeordneter spricht, ist außerdem selten seine eigene Entscheidung. Redner werden von den Klubs bestimmt. Rhetorisch weniger begabte oder bei der Klubführung in Ungnade gefallene Mandatare erhalten entsprechend weniger Redezeit oder dürfen nur zu fortgeschrittener Stunde ans Rednerpult.
Was in den Ausschüssen des Nationalrats besprochen wird, ist, mit wenigen Ausnahmen, aus guten Gründen geheim. Die Abgeordneten sollen sich abseits der Öffentlichkeit, in der die Profilierung im Vordergrund steht, aussprechen. Auch wenn immer wieder das Niveau in den Ausschüssen beklagt wird, sind sie grundsätzlich wichtige parlamentarische Gremien.
Ihre Geheimhaltung ist allerdings Interpretationssache. Die Parlamentskorrespondenz berichtet immer wieder sehr ausführlich aus den eigentlich nichtöffentlichen Ausschusssitzungen. Wenn es um einen Punkt des Protokolls geht, zeigt sich die Parlamentsdirektion jedoch weniger großzügig: die Anwesenheitslisten.
Um ein komplettes Bild der parlamentarischen Anwesenheit zeichnen zu können, hat Addendum zunächst bei der Parlamentsdirektion um die Anwesenheitslisten der Ausschüsse des Nationalrats angefragt. Diese wurde mit Verweis auf deren Nichtöffentlichkeit verweigert. Das, obwohl das Parlament in seinen Zusammenfassungen der Ausschusssitzungen durchaus Namen von Rednern und damit deren Anwesenheit erwähnt.
Auch E-Mail-Anfragen an alle Abgeordneten brachten wenige Ergebnisse. Nach Information von Addendum wurde bei einer Besprechung der Klubdirektoren beschlossen, keine Auskünfte zu liefern. Einzelne Abgeordnete gaben dennoch ihre Anwesenheiten bekannt – wenig überraschend meldeten sich diejenigen, die laut Selbstauskunft keine Sitzungen versäumt hatten.
Der bisherige SPÖ-Klubobmann Andreas Schieder gibt als sachliches Hindernis für eine umfassende Beauskunftung die häufig wechselnde Besetzung der Ausschussteilnehmer an. Außerdem fänden „sehr oft Ausschüsse gleichzeitig statt, die mitunter denselben Abgeordnetenkreis betreffen und ebenfalls ist zu beachten, dass wir zurzeit sehr oft tagende Untersuchungsausschüsse haben“.
Diese Einwendungen hätten in eine Bewertung der Anwesenheitslisten natürlich einzufließen. Die Zurückhaltung der Klubs ist auch im Hinblick auf die Boulevardberichterstattung über „faule“ Abgeordnete durchaus verständlich. Addendum versucht dennoch Transparenz herzustellen und hat mittlerweile bei der Parlamentsdirektion einen Bescheid über die Nichterteilung der Auskunft nach dem Auskunftspflichtgesetz beantragt.
Bei dieser Auswertung wird die Anwesenheit aller Abgeordneten im Parlament in der aktuellen 26. Legislaturperiode (seit November 2017) ausgewertet. Die Auswertung der Reden im Parlament erfolgt auf Basis aller Abgeordneten. Die Reden von Ministern, Europa-Abgeordneten und weiteren Nicht-Abgeordneten werden in diesen Berechnungen und Analysen nicht berücksichtigt. Wir haben 496 Abstimmungen und 1.881 Reden ausgewertet.