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Auszählungsfehler im Nationalrat
25. Oktober 2019 Politometer Lesezeit 5 min
Zum Ende der vorigen Gesetzgebungsperiode kam es zu einem Fehler bei einer Abstimmung im Nationalrat. Er ist dort bis zuletzt unbemerkt geblieben und wirft ein Schlaglicht auf den österreichischen Parlamentarismus.
Bild: Addendum

Update 28. Oktober 2019:

In Reaktion auf die Recherchen von Addendum kündigte Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka an, sich für eine elektronische Abstimmungsanlage im renovierten Parlamentsgebäude einzusetzen. Außerdem hat ein Anwalt gegen Anneliese Kitzmüller Anzeige eingebracht. Welche Folgen diese haben kann, lesen Sie hier.

Genau zehn Sekunden nach 20.04 Uhr, so vermerkt es das Stenographische Protokoll, fand am 25. September eine Abstimmung im Nationalrat statt. Peter Pilz hatte mit anderen Abgeordneten einen Antrag eingebracht, mit dem der Innenminister aufgefordert werden sollte, die Vereine der Identitären aufzulösen.

Solche Entschließungsanträge haben keine rechtliche Wirkung, sind aber politische Willensäußerungen des Parlaments. Gerade gegenüber einer Expertenregierung könnte eine so geäußerte Forderung der Nationalratsmehrheit allerdings durchaus Wirkung entfalten. Der Antrag 301/UEA wurde aber abgelehnt, so steht es zumindest im Protokoll. Die Wirklichkeit sieht anders aus.

Der Moment der Abstimmung am 25. September

Die Bilder der Abstimmung können Sie in hoher Auflösung hier herunterladen

Verzählt

Als über den Wunsch nach Auflösung der Identitären-Vereine abgestimmt wird, sind die üblichen Regeln des österreichischen Parlamentarismus, dass Koalitionspartner gemeinsam abstimmen, außer Kraft gesetzt: Die Koalition ist geplatzt, es gilt das Spiel der freien Kräfte. So kommt es, dass SPÖ und FPÖ gegen den Antrag stimmen, während ÖVP, NEOS und Liste JETZT dafür sind. Sozialdemokraten und Freiheitliche haben eine Mehrheit im Nationalrat, und so kommt es wohl auch, dass die Dritte Nationalratspräsidentin Anneliese Kitzmüller nicht genau nachzählen lässt, als die Abstimmung ansteht.

Im österreichischen Parlament ist es nämlich absolut unüblich nachzuzählen, wie viele Abgeordnete wofür gestimmt haben – das Präsidium orientiert sich an den Fraktionen. Das genügt normalerweise auch, denn dass Abgeordnete gegen die Fraktionslinie stimmen, kommt ausgesprochen selten vor.

Bei dieser Abstimmung ist jedoch die Ausgangslage verändert: Es fehlen schlichtweg zu viele Abgeordnete. Die zwei Parteien, die bei vollständiger Anwesenheit zusammen eine Mehrheit bilden, lehnen den Antrag ab – haben aber zu diesem Zeitpunkt keine Mehrheit im Saal. Bei der SPÖ sind nur 31 von 52 Mandataren anwesend, bei der FPÖ sind es immerhin 35 von 51. ÖVP, NEOS und JETZT, die mit der klublosen Abgeordneten Alma Zadić für den Antrag stimmen, haben also eigentlich eine Mehrheit. Auch die Nein-Stimme von Martha Bißmann kann das Ruder nicht herumreißen: Während 67 Abgeordnete gegen den Antrag stimmen, sind 70 dafür.

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Parlamentarischer Pfusch

Die Dritte Präsidentin, die zu diesem Zeitpunkt den Vorsitz führt, bemerkt das allerdings ebenso wenig wie der Erste Präsident Wolfgang Sobotka, der im Plenum für den Antrag gestimmt hat. Kitzmüller vermerkt laut Protokoll, das auch in der Folge unbeanstandet bleibt, nur: „Das ist die Minderheit, abgelehnt.“

Es ist der neunte von 29 Tagesordnungspunkten der Sitzung. An diesem Tag finden dutzende Abstimmungen statt. Im Abstimmungsmarathon der letzten Parlamentssitzungen vor der Wahl geht der Fehler einfach unter.

Hätte es sich um einen Gesetzesantrag gehandelt, wäre die Sache weniger glimpflich ausgegangen: Eine solche Abstimmungspanne würde dazu führen, dass der Bundespräsident die Beurkundung verweigern müsste. Wäre auch ihm die Panne nicht aufgefallen, könnte das Gesetz vom Verfassungsgerichtshof aufgehoben werden.

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Durch Zufall entdeckt

Auch beim Politometer-Team, das für Addendum die Abstimmungsergebnisse erhebt, fällt die falsche Wertung zunächst nicht auf. Erst ein Leser macht auf Twitter darauf aufmerksam, dass beim Politometer ein Antrag als angenommen gewertet wurde, den die Parlamentsseite als abgelehnt vermerkt.

Der Fehler konnte überhaupt nur entstehen, weil der Nationalrat kein elektronisches Abstimmungssystem einsetzt, das in vielen Ländern mittlerweile Standard ist. Die Rechtsgrundlage dafür wurde bereits geschaffen. Das Parlament konnte sich bisher aber noch nicht auf eine Umsetzung einigen. Bis es so weit ist, springt der Politometer ein. 

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Methodik

Das Politometer-Team fotografiert jede Abstimmung im Nationalrat und wertet das Abstimmungsverhalten und die Anwesenheit der Abgeordneten aus. Jede Abstimmung wird zweimal abgelichtet, um etwaige Unklarheiten durch Bewegungen der Abgeordneten ausschließen zu können. Im gegenständlichen Fall wurden beide Fotos nochmals überprüft und ausgewertet.

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Anzeige gegen Anneliese Kitzmüller eingebracht

Update vom 29. Oktober 11.30 Uhr

In Reaktion auf die Recherchen von Addendum hat ein Anwalt Anzeige wegen Missbrauchs der Amtsgewalt und falscher Beurkundung und Beglaubigung im Amt gegen die ehemalige Dritte Nationalratspräsidentin Anneliese Kitzmüller eingebracht. Allerdings legen weder das Stenographische Protokoll noch die Aufzeichnungen des ORF nahe, dass Frau Kitzmüller mit dem Vorsatz handelte, das Abstimmungsergebnis falsch zu dokumentieren. So hat Kitzmüller auch den unmittelbar zuvor abgestimmten Entschließungsantrag für „Ausreichende Ressourcen im BVT zum Schutz gegen Rechtsextremismus“ als angenommen gewertet, obwohl die FPÖ gegen diesen gestimmt hatte. Darüber hinaus war Kitzmüller als Dritte Nationalratspräsidentin zwar Amtsträgerin im Sinne des Strafgesetzbuches, eher unwahrscheinlich ist jedoch, dass sie in Ausübung des Vorsitzes im Nationalrat auch Beamtin war. Nach der Judikatur des Obersten Gerichtshofs sind Organe der Gesetzgebung keine Beamten im Sinne des Strafgesetzbuchs. Die angezeigten Delikte richten sich aber ausschließlich gegen diese. Grundsätzlich können also nur Organe der Vollziehung Amtsmissbrauch begehen. Abgeordnete, und damit auch die Dritte Nationalratspräsidentin, sind lediglich Amtsträger, die beispielsweise wegen Bestechung bestraft werden können. Der Präsident des Nationalrats handelt laut Bundesverfassung nur dann als Organ der Vollziehung – und damit als Beamter im Sinne des Strafgesetzbuchs – wenn er Verwaltungsaufgaben vollzieht. Die Feststellung eines Abstimmungsergebnisses ist jedoch ein Akt der Gesetzgebung. Damit ist fraglich, ob ein tatsächlicher Grund zur Strafverfolgung vorliegt.

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