Österreich hat erstmals eine Bundesregierung unter Beteiligung der Grünen. Wie viel Neues diese Regierung umsetzen kann, werden die kommenden Jahre zeigen. Ein Novum lässt sich allerdings schon jetzt festhalten: Es ist die erste Regierung der Zweiten Republik, in der kein Sozialpartner in der Bundesregierung vertreten ist. Keiner der angelobten Minister oder Staatssekretäre hatte zuvor eine Funktion in einer der sozialpartnerschaftlichen Organisationen. Damit bricht diese Regierung mit einer jahrzehntelangen Tradition in Österreich. Denn insbesondere die sozial- und wirtschaftspolitisch relevanten Ministerien wurden seit 1945 fast durchgehend mit Personen aus der Sozialpartnerschaft besetzt.
Das Fehlen an Sozialpartnern in der neuen Regierung lässt sich auf zwei Gründe zurückführen. Zum einen sind die Grünen erstmals in einer Bundesregierung vertreten, welche in den sozialpartnerschaftlichen Institutionen traditionell kaum verankert sind. So wie auch die Freiheitlichen in der vorangegangenen türkis-blauen Koalition bringen die Grünen damit keine Minister mit sozialpartnerschaftlichem Hintergrund in die Regierung ein. Zum anderen rekrutiert die ÖVP unter Sebastian Kurz – im deutlichen Unterschied zu seinen Vorgängern – nicht aus dem Personalpool der sozialpartnerschaftlichen Organisationen. Das war bereits unter Türkis-Blau erkennbar: Finanzminister Hartwig Löger war der einzige Minister mit sozialpartnerschaftlichem Hintergrund. Für seinen Nachfolger, Gernot Blümel, gilt das nicht mehr.
Staatssekretäre sind gesetzlich keine Mitglieder der Bundesregierung. Da sie jedoch an den Ministerratssitzungen teilnehmen und von Parteien strategisch besetzt werden, wurden sie in diese Untersuchung aufgenommen.
Hartwig Löger war vor seinem Eintritt in die Politik als Spartenvertreter der Landessparte Bank und Versicherung der Wirtschaftskammer Wien tätig. Nach der Entlassung der FPÖ-Minister am 21. Mai 2019 wurde mit Walter Pöltner (Arbeiterkammer) ein weiterer Minister mit sozialpartnerschaftlichem Hintergrund Teil der Regierung Kurz.
Die Sozialpartnerschaft ist ein zentrales Kennzeichen des politischen Systems Österreichs. In den unmittelbaren Nachkriegsjahren und vor dem Hintergrund der Erfahrungen der Zwischenkriegszeit geschaffen, üben die zentralen Organisationen der Sozialpartnerschaft seitdem einen prägenden Einfluss auf Österreichs Wirtschafts- und Sozialpolitik aus. Tripartistische Verhandlungsmuster – also konzertierte Verhandlungen zwischen Arbeitergebern, Arbeiternehmern und der Regierung – haben sich nach dem Zweiten Weltkrieg in zahlreichen europäischen Ländern gebildet. Der Einfluss und die Stabilität der österreichischen Sozialpartnerschaft sind im internationalen Vergleich aber herausragend und eines der zentralen Merkmale der österreichischen „Konsensdemokratie“.
Dafür sind vor allem zwei Faktoren verantwortlich: Zum einen sind in Österreich sowohl Arbeitnehmer- als auch Arbeitergeberinteressen in wenigen stark zentralisierten und mitgliedsstarken Organisationen gebündelt. Im Fall der Kammern sind diese durch die Pflichtmitgliedschaft sogar gesetzlich abgesichert. Zum anderen gibt es in Österreich eine fast einzigartig enge Verflechtung dieser Organisationen mit der SPÖ und der ÖVP. So werden beispielsweise die Vertretungswahlen in den Kammern und dem Österreichischen Gewerkschaftsbund – trotz rückläufiger Tendenz – weiterhin von diesen beiden Parteien geprägt. Auch im Nationalrat sind in den Reihen beider Parteien weiterhin zahlreiche Kammer- und Gewerkschaftsvertreter zu finden.
Die vier zentralen Institutionen der Sozialpartnerschaft sind auf der Arbeitergeberseite die Wirtschaftskammer Österreich (WKO) sowie die Landwirtschaftskammer Österreich (LKÖ) und auf Seite der Arbeiternehmer die Bundesarbeitskammer (BAK) und der Österreichische Gewerkschaftsbund (ÖGB).
Diese enge personelle Verflechtung setzte sich – bis heute – eben auch auf der ministeriellen Ebene fort: Insbesondere unter den ÖVP-geführten Großen Koalitionen der Nachkriegsjahrzehnte hatte mehr als ein Drittel aller Minister und Staatssekretäre sozialpartnerschaftlichen Hintergrund. Auch unter der ÖVP-Alleinregierung ab 1966 und nochmals verstärkt unter den SPÖ-Alleinregierungen der 1970er Jahre setzte sich dieser hohe Anteil an Sozialpartner fort, wobei je nach Alleinregierung Vertreter der Wirtschafts- und Landwirtschaftskammern oder der Arbeiterkammer und der Gewerkschaften in die Regierung rückten. Das führte dazu, dass in den Hochzeiten der Sozialpartnerschaft nicht – wie in vielen Ländern üblich – Interessenvertreter mit der Regierung verhandelten; sondern dass Interessenvertreter mit einer Regierung verhandelten, die selbst zu großen Teilen aus diesen Interessenorganisationen rekrutiert wurde.
Seit den 1990er Jahren wird von politischen Beobachtern immer wieder das Ende der Sozialpartnerschaft diskutiert. Zumindest auf ministerieller Ebene lässt sich dies jedoch nicht feststellen. Vielmehr hing in den vergangenen drei Jahrzehnten der personelle Einfluss der Sozialpartner vom Regierungstyp ab. Unter den SPÖ-geführten Großen Koalitionen der 1990er Jahre blieb der Anteil an Sozialpartnern in der Regierung (nach einem kurzen Rückgang unter der SPÖ-FPÖ-Koalition zwischen 1986 und 1990) weiterhin hoch.
Mit dem Regierungsantritt von Schwarz-Blau unter Wolfgang Schüssel kam es jedoch zu einem deutlichen Einschnitt – der mit dem unter Sebastian Kurz durchaus vergleichbar ist. Denn in beiden Regierungen (Schüssel I und II) waren nur drei der 20 bzw. 25 Minister und Staatssekretäre Sozialpartner. Auffallend dabei: Zwei dieser drei Minister wurden von der FPÖ und nur einer – Martin Bartenstein – von der ÖVP nominiert. So wie Sebastian Kurz heute verzichtete Wolfgang Schüssel weitgehend auf Personal aus den ÖVP-dominierten Sozialpartnerorganisationen.
Dennoch sind die Schüssel-Jahre als Einschnitt zu charakterisieren und weniger als Ausdruck einer langfristigen Veränderung weg von den korporatistischen Verhandlungsmustern der Nachkriegszeit. Denn in den folgenden Großen Koalitionen unter Alfred Gusenbauer, Werner Faymann und Christian Kern stieg der Anteil der Sozialpartner in der Regierung wieder deutlich an. Das lag aber nicht ausschließlich an der SPÖ, die erneut Ministerien mit Sozialpartnern besetzte. Auch die ÖVP griff in dieser Zeit wieder stärker auf die sozialpartnerschaftliche Personalressource zurück. Die ÖVP rekrutiert demnach in Koalitionen mit der SPÖ aus anderen Personalressourcen als in Kleinen Koalitionen mit der FPÖ oder den Grünen.
Das Fehlen an Sozialpartnern in der Regierung bedeutet nun freilich nicht, dass die Sozialpartnerschaft in einer Krise steckt oder sogar zu einem Ende gekommen ist. Politische Einflussmöglichkeiten sind weiterhin sowohl auf formellem (beispielsweise über das Begutachtungsverfahren) als auch informellem Weg möglich. Darüber hinaus sind Wirtschafts- und Landwirtschaftskammer weiterhin gut in der ÖVP vernetzt – und dennoch hat sich Österreich mit Bildung der türkis-grünen Regierung ein Stück vom sozialpartnerschaftlichen Politikmodus der Nachkriegszeit entfernt.
Diese Untersuchung ist eine Fortführung einer wissenschaftlichen Studie des Politikwissenschaftlers Laurenz Ennser-Jedenastik. Dazu wurde der sozialpartnerschaftliche Hintergrund aller 298 Minister und Staatssekretäre, die seit Beginn der Zweiten Republik (die provisorische Staatsregierung unter Karl Renner ist ausgenommen) im Amt waren (unabhängig davon, ob sie zu Beginn oder während der Legislaturperiode ernannt wurden), recherchiert.
Als „sozialpartnerschaftlicher Hintergrund“ gilt dabei ein Amt oder Dienstverhältnis in einer der folgenden vier Organisationen: Wirtschaftskammer Österreich (WKÖ), Landwirtschaftskammer Österreich (LKÖ), Bundesarbeitskammer (BAK) und der Österreichische Gewerkschaftsbund (ÖGB). Diese Definition wurde gewählt, da die reine Mitgliedschaft in einer Kammer aufgrund des Pflichtmitgliedschaft bestimmter Berufe kein aussagekräftiger Indikator wäre.