Emmanuel Macron und Matteo Salvini verkörpern unterschiedliche Visionen für ein neues Europa. Eins wollen allerdings beide: die Dominanz der Christ- und Sozialdemokraten brechen, um damit Europa zu verändern. Aus diesem Grund haben beide Staatsmänner die Gründung neuer Fraktionen im kommenden Europaparlament angekündigt. Macron will die liberalen Parteien Europas zusammenführen und stärken, Salvini die rechtskonservativen und nationalistischen Kräfte im Parlament bündeln. Eine Analyse der Abstimmungen, die in der vergangenen Gesetzgebungsperiode im Europaparlament durchgeführt wurden, zeigt jedoch, dass der Einfluss der liberalen Fraktion von Macron aus drei Gründen deutlich größer sein könnte als der von Salvinis Rechtsallianz.
Anfang Mai gab Macron bekannt, dass seine Partei Renaissance in Zukunft mit den restlichen liberalen Parteien Europas kooperieren werde. Die deutsche FDP wird ebenso Teil dieser Fraktion sein wie die spanische Ciudadanos und die österreichischen NEOS. Macrons Fraktion umfasst damit zahlreiche wirtschafts- und sozialliberale Parteien mit pro-europäischer Ausrichtung. Salvini verfolgt ein ähnliches Ziel: Er will die drei bestehenden rechten Fraktionen in eine gemeinsame Allianz zusammenführen. Keimzelle der neuen Fraktion ist dabei die bereits bestehende Fraktion ENF.
In der einheitlicheren ideologischen Ausrichtung dieser Parteien liegt ein erster Grund, warum Macrons Fraktion künftig einen größeren Einfluss haben könnte: Während die liberalen Parteien in den meisten Politikbereichen ähnliche Positionen vertreten, gibt es bei den rechten Parteien klare Spaltungslinien. Das wird deutlich, wenn man die Geschlossenheit der beiden Fraktionen im vergangenen Europaparlament vergleicht. Bei den meisten Abstimmungen zwischen 2014 und 2019 stimmten die liberalen Abgeordneten für den gleichen Vorschlag – und traten somit sehr geschlossen auf. Bei der rechten Fraktion ENF war dies, wie frühere Analysen bereits gezeigt haben, bei zahlreichen Abstimmungen nicht der Fall – ein Hinweis darauf, dass es innerhalb der Fraktion häufig unterschiedliche Ansichten gab und auch in Zukunft geben könnte.
Allerdings könnte ausgerechnet der geplante Zusammenschluss unter Macrons Führung das Machtgefüge in der liberalen Fraktion verändern: Bislang waren in der liberalen Fraktion ALDE 35 unterschiedliche Parteien aus 21 Ländern zusammengefasst. Keine diese Parteien stellte dabei mehr als vier Abgeordnete. Macrons Partei alleine wird nach aktuellen Prognosen aber 22 Abgeordnete stellen und wäre damit der dominante Akteur in der neuen Fraktion. Zwar scheinen die politischen Unterschiede zwischen Macrons Partei und den restlichen liberalen Parteien nicht besonders groß; eine ruckartige Verschiebung des internen Machtgefüges einer Fraktion kann aber durchaus zu Konflikten führen.
Renaissance ist streng genommen keine Partei, sondern ein Wahlbündnis, das für die Europawahl gegründet wurde. Dieses Bündnis umfasst die eigentliche Partei von Macron, La Republique en Marche, sowie die konservative Partei Agir und die liberale Partei MoDem. Dieses Dreierbündnis will Macron mit anderen liberalen Parteien Europas in einer Fraktion des EU-Parlaments zusammenführen.
Die Fraktion ENF (Europa der Nationen und der Freiheit) wurde 2015 gegründet und umfasst zahlreiche rechte und nationalistische Parteien wie die FPÖ, Rassemblement National (Frankreich), Vlaams Belang (Belgien) oder die Lega Nord von Salvini. Das Ziel Salvinis ist es, diese Fraktion mit zwei weiteren bereits bestehenden Fraktionen zusammenzuführen: der EKR (ein Zusammenschluss von rechtskonservativen und europakritischen Parteien) und der EFDD (ein Zusammenschluss von nationalistischen Kräften wie der AfD oder der UKIP-Partei aus Großbritannien).
In den vergangenen fünf Jahren stimmten die Christ- und Sozialdemokraten – die bislang dominanten Fraktionen im Europaparlament – in 73 Prozent der Abstimmungen miteinander. Diese Große Koalition wurde aber in 93 Prozent der Abstimmungen von den Liberalen unterstützt – häufiger als von jeder anderen Fraktion im EP und deutlich häufiger als die rechte Fraktion ENF. Durch die Zustimmung der Liberalen erreichte die Große Koalition in der Vergangenheit stabile und klare Mehrheiten.
Für das kommende EU-Parlament ist jedoch entscheidend, dass die Große Koalition bisher nicht auf die Stimmen der Liberalen angewiesen war. Christ- und Sozialdemokraten hatten aus eigener Kraft eine, wenn auch knappe, Mehrheit von 27 Stimmen. Durch den Verlust der gemeinsamen Mehrheit von Christ- und Sozialdemokraten – und darauf deuten derzeit alle Umfragen hin – verändert sich die Rolle der Liberalen grundlegend. Sie könnten nun zum entscheidenden Mehrheitsbeschaffer werden. Der zweite Grund, warum die liberale Fraktion in Zukunft eine wichtige Rolle spielen könnten, ist demnach, dass die Große Koalition auf sie angewiesen sein wird – und diese Schlüsselstellung könnten sie nützen, um den beiden Großparteien wichtige Zugeständnisse abzuringen.
Die Zusammenarbeit zwischen der Großen Koalition und der rechten Fraktion ENF funktionierte in der Vergangenheit deutlich schlechter: In weniger als einem Drittel der Abstimmungen stimmte die ENF mit den Großparteien. Zwar könnte auch die neue Allianz von Salvini die kritische Masse erreichen, um gemeinsam mit den Volksparteien Mehrheiten zu bilden. Allerdings deutet die geringe Übereinstimmung in der Vergangenheit darauf, dass es zwischen diesen drei Fraktionen wenig Übereinstimmung gibt. Das könnte es auch in Zukunft unwahrscheinlich machen, dass die Große Koalition die rechte Fraktion als Partner sucht – oder umgekehrt.
Volkspartei und Sozialdemokraten waren sich in den vergangenen fünf Jahren jedoch nicht immer einig: bei 2.806 Abstimmungen stimmten die Abgeordneten beider Parteien für unterschiedliche Vorschläge. Das Handelsabkommen CETA zwischen der Europäischen Union und Kanada liefert ein prominentes Beispiel. Als das Paket im Februar 2017 zur Abstimmung kam, stimmten die christdemokratischen Abgeordneten mit deutlicher Mehrheit dafür; die Sozialdemokraten jedoch mit großer Geschlossenheit dagegen. Beide Fraktionen waren daher auf die Zusammenarbeit mit anderen Fraktionen angewiesen, um die Abstimmung zu gewinnen – was in diesem Fall den Sozialdemokraten durch eine Allianz mit den Grünen, der kommunistischen Fraktion GUE und den rechten Fraktionen ENF und EFDD gelang.
Abstimmungen, in denen sich Christ- und Sozialdemokraten nicht einig sind, könnten in Zukunft durchaus häufiger auftreten, sollten beide Parteien versuchen, sich voneinander abzugrenzen. Auch hier könnten die Liberalen zum entscheidenden Partner werden. Denn im Unterschied zu anderen Fraktionen haben sich die Liberalen in der Vergangenheit nicht auf eine der beiden Großparteien festgelegt.
Betrachtet man die Abstimmungen der vergangenen fünf Jahre, in denen sich keine Große Koalition formte, fallen einige klare Bündnisse auf: die Grünen und die Kommunisten stimmten dann in mehr als 80 Prozent der Fälle mit den Sozialdemokraten und formten damit jene linke Koalition, vor der einer ihrer politischen Gegner, Österreichs ÖVP-Bundeskanzler Sebastian Kurz, zuletzt gewarnt hat. Die konservative EKR (ein Zusammenschluss von europakritischen und konservativen Parteien wie den britischen Tories) stimmte in ungefähr 80 Prozent mit der Volkspartei und versuchte eine rechte Mehrheit zu bilden. Bei den Liberalen lässt sich keine vergleichbare Festlegung erkennen: Die Liberalen stimmten in 55 Prozent der Abstimmungen mit den Christdemokraten und in 45 Prozent mit den Sozialdemokraten.
Der dritte Grund, warum die Liberalen eine entscheidende Kraft im EP werden könnten, ist also, dass sie in der Wahl ihrer Partner flexibler sein können als die anderen Fraktionen. Denn ideologisch steht die liberale Fraktion bei vielen Politikbereichen in der Mitte – links von ihr die Sozialdemokraten, Grünen und Kommunisten; rechts von ihr die christdemokratische Volkspartei und die rechten Fraktionen. Damit könnten die Liberalen für beide Lager in Zukunft zum entscheidenden Mehrheitsbeschaffer werden.
Es muss allerdings betont werden, dass weder der Zusammenschluss von Sozialdemokraten (185 Abgeordnete), Grünen (52) und Kommunisten (52) noch die Koalition von Volkspartei (216) und EKR (72) für eine Mehrheit gereicht hat.
Aus diesem Grund haben die Liberalen 89 Prozent aller Abstimmungen im vergangenen Parlament gewonnen – mehr als jede andere Fraktion. Damit ist gemeint, dass sich das Plenum aller 751 Abgeordneten für den Vorschlag entscheidet, für den sich auch die Mehrheit der Liberalen entschieden haben.