Italien könnte ein Defizitverfahren im Rahmen des europäischen Stabilitätspaktes ESM drohen, da es die Ausgabenziele nicht eingehalten haben soll. Da die EU-Mitglieder über den ESM füreinander Haftungen eingehen, könnte die Entscheidung Auswirkungen auf die Stabilität der Wirtschafts- und Währungsunion haben. Die Europäische Kommission könnte gezwungen sein, sich weniger kompromissbereit zu zeigen als bei vielen Vertragsverletzungsverfahren. Wegen der Indexierung der Familienbeihilfe wurde ein solches zuletzt auch gegen Österreich eingeleitet. Der Ausgang des Verfahrens steht noch in den Sternen. Viele Juristen haben allerdings Bedenken angemeldet, was die Rechtskonformität der Maßnahme betrifft.
Auf der anderen Seite hat Österreich durch den potenziellen Rechtsbruch kaum harte Konsequenzen zu befürchten. Eine Auswertung der Fälle der vergangenen Jahre zeigt eindrucksvoll, wie selten Mitgliedstaaten tatsächlich für einen Verstoß gegen Unionsrecht vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) verurteilt oder gar bestraft werden: In 19.549 von der Kommission eingeleiteten Vertragsverletzungsverfahren seit 2002 wurde bisher 2.261-mal der EuGH angerufen, nur 38-mal wurden Staaten zu Geldbußen verurteilt, und in lediglich 18 Fällen wurden bisher tatsächlich Strafen bezahlt.
Stand 1.12.2018. Viele Verfahren sind noch anhängig und ziehen sich über mehrere Jahre. Die letzten beiden Zahlen beziehen sich auch auf Fälle vor 2002.
Ein Vertragsverletzungsverfahren verläuft über mehrere Etappen. Am Beginn des Vorgangs kann die EU-Kommission von sich aus oder aufgrund einer Beschwerde (von Mitgliedstaaten und privater Seite) ein Vorverfahren gegen einen Mitgliedstaat einleiten. In diesem ersten Schritt – in dem sich momentan auch das Verfahren gegen Österreich befindet – prüft die Kommission selbst, ob eine Verletzung vorliegt, und richtet gegebenenfalls ein Mahnschreiben an den betroffenen Mitgliedstaat. Die Zahl der eingeleiteten Verfahren hat stark abgenommen. Während sie zwischen 2003 und 2011 bei über 1.000 pro Jahr lag, hat sie sich bei mittlerweile knapp über 500 eingependelt – und das, obwohl die Mitgliedstaaten inzwischen mehr geworden sind. Die Zahl der Verfahren gegen Österreich hat sich um über die Hälfte reduziert und folgt dem EU-Schnitt.
Der Großteil der Verfahren wird bereits im Anfangsstadium beendet. Entweder weil der Mitgliedstaat einlenkt oder weil er sich anderweitig mit der Kommission einigt. Die Zugangsregelung für Medizinstudenten in Österreich ist ein Beispiel für einen solchen Kompromiss. Ungeachtet dessen kann ein anderer Mitgliedstaat nach wie vor den Gerichtsweg beschreiten.
Ob ein Gesetz oder Verwaltungsakt eines Mitgliedstaates tatsächlich gegen geltendes EU-Recht verstößt, entscheidet der EuGH. Hier ergibt sich eine große Kluft zwischen eingeleiteten Verfahren und rechtlich bindenden Verfahren am EuGH. Die überwiegende Mehrheit der Fälle endet, ohne dass der Sachverhalt an den EuGH herangetragen wird. Tendenziell werden immer weniger Fälle tatsächlich prozessiert. Landeten EU-weit vor 2011 noch durchschnittlich etwa 200 Verfahren jährlich vor dem Gericht, so sind es mittlerweile nur noch um die 50 Fälle. Reduziert man die Betrachtung auf die 15 Länder, die schon vor 2004 EU-Mitglieder waren, so schrumpft etwa die Anzahl der Klagen von ganzen 267 Fällen im Jahr 2004 auf 27 von Jänner bis November 2018. Für Österreich hat sich die Anzahl der Klagen vor dem EuGH von über 20 Anfang der 2000er fast auf null reduziert.
Wie erklärt sich die Kluft zwischen eingeleiteten Verfahren und EuGH-Entscheidungen? Der Großteil der Verfahren wird eingestellt, bevor sie überhaupt an den EuGH gereicht werden. Entweder weil der Mitgliedstaat eine Säumigkeit während der Überprüfung durch die Kommission behebt, oder aber weil die Kommission von sich aus das Verfahren einstellt. Die sinkenden absoluten Zahlen und Anteile der Klagen lassen hingegen zwei Interpretationen offen: Auf der einen Seite ist es möglich, dass die EU-Staaten sich stärker an die EU-Regelungen halten und Rügen der Kommission schneller nachkommen. Auf der anderen Seite könnte es sein, dass die EU-Kommission Beschwerden über Verstöße nicht mehr konsequent genug verfolgt.
Diesen Verdacht stellte das Politmagazin Politico, mit Verweis auf anonyme Unternehmen, in den Raum.
Am Ende des Verfahrens vor dem EuGH kann eine finanzielle Strafe ausgesprochen werden, um unbeugsame Mitgliedstaaten zu sanktionieren. Meist geschieht dies, nachdem der EuGH im Laufe eines Vertragsverletzungsverfahrens zum zweiten Mal angerufen wurde, weil der Staat das erste Urteil nicht umgesetzt hat. So weit kommt es allerdings nur in Extremfällen. 38-mal wurde seit dem Jahr 2000 tatsächlich eine Strafe verhängt. Nach Auskunft der Kommission wurde diese aber bisher nur in 18 Fällen auch tatsächlich bezahlt.
Hinzu kommt, dass Strafen in drei der 18 Fälle zum Teil oder gänzlich zurückbezahlt wurden. So wurde Schweden im Jahr 2013 zur Zahlung eines Pauschalbetrags von drei Millionen Euro verurteilt, weil es gegen eine EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung verstoßen hatte. Im Jahr darauf wurde der gesamte Betrag allerdings schon wieder rückerstattet, nachdem der EuGH die Richtlinie gekippt hatte. Bei den Strafen geht es ohnehin oft nur um für Staaten spärliche Summen: In der Regel betragen sie einige wenige Millionen Euro oder bewegen sich gar im Bereich mehrerer hunderttausend Euro. Wie hoch der zu zahlende Betrag ist, hängt dabei auch vom Bruttoinlandsprodukt des Mitgliedstaates sowie der Dauer der Säumigkeit ab.
Und Österreich? Weder hat es je eine Geldstrafe an die EU abgeführt noch ist es überhaupt zu einer solchen verurteilt worden. Im Licht dieser Erkenntnisse scheint klar: Die Bundesregierung hat wenig zu verlieren, selbst wenn sie davon ausgeht, dass die Regelung gekippt wird. Die Methode „Trial and Error“ endet im besten Fall mit einer Aufrechterhaltung der Regelung, im schlechtesten Fall mit einer Aufhebung ohne Sanktion.
Von der Einleitung des Verfahrens über die Klage beim EuGH bis hin zur erneuten Anrufung zum Ausspruch einer Strafe, werden fast alle Verfahren ohne finanzielle Konsequenzen beendet. Ein Einlenken oder ein Kompromiss zur richtigen Zeit können Sanktionen effektiv abwenden. Sollte selbst das nicht rechtzeitig geschehen, sieht man sich mit einer Strafe konfrontiert, die, im Vergleich zum kolportierten Einsparungspotenzial der Indexierung, äußerst gering ausfällt. In der Entscheidung über eine Strafe für Italien ist der Preis allerdings wesentlich höher: Es geht um Milliarden und die Zukunft des Stabilitätspaktes.