loading...
Vielgeprüftes Österreich
11. September 2020 Politometer Lesezeit 7 min
Manche Regierungen schlagen sich besser als andere, auch vor dem Verfassungsgerichtshof. Eine Auswertung der Gesetzesaufhebungen der vergangenen Jahrzehnte zeigt: Zwei Koalitionen haben besonders oft verfassungswidrige Initiativen durch den Nationalrat gebracht.
Bild: Michael Gruber | EXPA, Christian Müller | APA

Der Verfassungsgerichtshof prüft den Gesetzgeber. Das ist das Erbe des in der Staatsrechtslehre so bezeichneten Kelsenianischen Modells der verfassungsgerichtlichen Kontrolle. Sie ist eine österreichische Erfindung, auf die man stolz sein kann. Viele Staaten der ganzen Welt sind ihr gefolgt. Der Gedanke, dass die von einem demokratisch legitimierten Parlament erlassenen Gesetze einer Prüfung durch Gerichte zugänglich sein sollen, deren demokratische Legitimation im besten Fall eine mittelbare ist, stößt mancherorts nach wie vor auf Kritik. Mit dem Demokratiekonzept der skandinavischen Staaten oder der Schweiz sind sie unvereinbar.

0
Kommentare
Kommentieren

Aufhebungen ohne große Aufregung

Wenn der Verfassungsgerichtshof ein Gesetz oder Teile davon aufhebt, findet das in den wenigsten Fällen großen öffentlichen Widerhall. Ob eine Regelung des burgenländischen Kehrgesetzes verfassungswidrig war, weil sie in die Kompetenz des Bundes eingreift, interessiert höchstens Rauchfangkehrer im Burgenland. Der VfGH findet ungleich mehr Beachtung, wenn er sich mit einem politischen Leuchtturmprojekt beschäftigt. Dann ist schnell die Rede von Gesetzespfusch. Die Opposition sieht sich in ihren Bedenken bestätigt, und die Medien üben mal mehr, mal weniger fundierte Kritik.

Welche Regierungskoalitionen wie viele Aufhebungen vor dem Verfassungsgerichtshof zu verantworten haben, wurde bisher nicht zusammenfassend untersucht. Der Verfassungsjurist Peter Bußjäger und sein Mitarbeiter David Schneebauer vom Institut für Öffentliches Recht, Staats- und Verwaltungslehre der Universität Innsbruck haben die Addendum vorliegenden Daten dazu nun erstmals erfasst.

0
Kommentare
Kommentieren

Zwei große Ausreißer

Die Erhebungen zeigen, dass unter den Bundesregierungen Schüssel I und Faymann I mit Abstand die meisten später aufgehobenen gesetzlichen Bestimmungen das Parlament passierten. Je 73-mal kassierte der VfGH Gesetze oder Bestimmungen der schwarz-blauen und der rot-schwarzen Koalitionen. Signifikant ist dabei, dass ÖVP und FPÖ in der nur dreijährigen Legislaturperiode unter Schüssel I ebenso viele Verfassungswidrigkeiten produzierten wie SPÖ und ÖVP unter Faymann I in fünf Jahren. Ebenso auffallend ist, dass die Gesetzesprüfung durch den VfGH jahrzehntelang kaum eine besondere Rolle gespielt hat.

0
Kommentare
Kommentieren

Diese hohen Reibungsverluste sind wohl auch, aber nicht nur, auf schlechte gesetzgeberische Leistungen zurückzuführen. Man muss einerseits berücksichtigen, dass die Zahl der beschlossenen Bundesgesetze seit den 1970er Jahren deutlich gestiegen ist, was zu mehr Aufhebungen führt. Andererseits hat sich auch die Spruchpraxis des VfGH geändert: Er hat seine frühere Zurückhaltung gegenüber dem Gesetzgeber abgelegt und ist zu einem durchaus aktiven Verfassungsgericht geworden. Schließlich ist über die Zeit auch das Verfassungsrecht angewachsen, was die Gründe vervielfacht, aus denen ein Gesetz verfassungswidrig sein kann. Seit 1964 gehört beispielsweise die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) dem österreichischen Verfassungsrecht an.

0
Kommentare
Kommentieren

Ursachenfindung

Die Innsbrucker Rechtswissenschaftler untersuchten auch die Ursachen für das Scheitern von 262 bundesgesetzlichen Bestimmungen, die zwischen 2003 und 2019 vom VfGH kassiert wurden: Verfassungswidrige Ungleichbehandlungen machten dabei fast die Hälfte der 290 Aufhebungsgründe aus.

0
Kommentare
Kommentieren

Am zweithäufigsten wurde eine Verletzung des Legalitätsprinzips moniert, etwa wenn ein Gesetz keine verfassungsrechtliche Grundlage besaß. Neben sonstigen Grundrechtsverletzungen spielten auch staatsorganisatorische Vorgaben, etwa ein Verstoß gegen das Prinzip der mittelbaren Bundesverwaltung, eine gewisse Rolle. Nur selten wurde ein Bundesgesetz aufgehoben, weil es in Landeskompetenzen eingegriffen hätte.

0
Kommentare
Kommentieren

Wien hebt sich deutlich ab

Im selben Zeitraum wurden auch insgesamt 110 landesgesetzliche Bestimmungen aufgehoben, auch hier dominierte der Gleichheitssatz als „Supergrundrecht“ die Aufhebungsgründe. Kompetenzverstöße sind bei den Ländern jedoch deutlich häufiger zu finden. Das verwundert nicht: Aufgrund ihrer eingeschränkten Zuständigkeiten stoßen die Landtage auf Schritt und Tritt an die Grenzen des Bundesrechts.

0
Kommentare
Kommentieren

Vergleicht man die Länder untereinander, ergeben sich doch deutliche Unterschiede, was die Zahl der aufgehobenen landesgesetzlichen Bestimmungen betrifft. Dies ist insoweit interessant, als die Landesgesetzgeber alle dieselben Zuständigkeiten haben und ein kleines Land prinzipiell mit denselben Regelungsbedürfnissen konfrontiert ist wie ein größeres. Dass der Wiener Landesgesetzgeber doch doppelt so häufig gegen die Bundesverfassung verstoßen hat wie die Landtage in Niederösterreich und der Steiermark, ist daher bemerkenswert. Der als eher experimentierfreudig bekannte Vorarlberger Landtag schneidet hingegen zusammen mit Oberösterreich sehr gut ab.

0
Kommentare
Kommentieren

Das zahlenmäßige Verhältnis von aufgehobenen Bundesgesetzen zu Landesgesetzen bestätigt die Annahme, dass sich Bundeskompetenzen und Landeskompetenzen in der Gesetzgebung etwa im Verhältnis von 9:1 bewegen.

0
Kommentare
Kommentieren

Was wird aufgehoben?

Die von großer medialer Aufmerksamkeit begleiteten Gesetzesaufhebungen zu Themen wie Migration und innere Sicherheit spielten in Summe nur eine untergeordnete Rolle. Die meisten Verstöße gegen die Bundesverfassung spielen sich im Bereich der klassischen Hoheitsverwaltung ab.

0
Kommentare
Kommentieren

Beim Landesrecht zeigt sich ein ähnliches Bild: Auch hier sind es vor allem Verwaltungsvorschriften und andere staatliche Vorgaben, die zu Aufhebungen führten. Das Fremdenrecht spielt mangels Landeskompetenz in diesem Bereich naturgemäß keine Rolle.

0
Kommentare
Kommentieren

Die Darstellungen geben einen Einblick in die Gesetzesprüfung, aber weder ein vollständiges Bild der Tätigkeit des VfGH noch jener der Gesetzgeber oder der Gesetzesvorschläge ausarbeitenden Regierungen. Verordnungsprüfungen, Staatsvertragsprüfungen und andere Verfahren vor dem VfGH sind von der Auswertung nicht erfasst. Offensichtlich ist, dass dem Gleichheitssatz eine sehr große Bedeutung bei der Normprüfung zukommt. Auch wenn anhand der vorliegenden Daten nicht davon ausgegangen werden kann, dass die Qualität der Rechtsetzung ständig schlechter wird, zeigt sich doch deutlich, dass einige Bundesländer und Regierungskoalitionen vor dem VfGH deutlich häufiger scheiterten als andere.

0
Kommentare
Kommentieren

Der Beitrag kam mit Beteiligung von Peter Bußjäger und David Schneebauer vom Institut für Öffentliches Recht, Staats- und Verwaltungslehre der Universität Innsbruck zustande.

0
Kommentare
Kommentieren
loading...
Die Redaktion von Addendum hat mit 15. September 2020 ihren Betrieb eingestellt. Zu diesem Zeitpunkt wurde auch diese Website letztmalig aktualisiert. Hier finden Sie das vollständige Archiv unserer Rechercheprojekte.
Wir bitten um Ihr Verständnis, dass manche Funktionen auf manchen Endgeräten nicht mehr verfügbar sind.

Das Addendum-Team, September 2020