Die vergangenen zehn Jahre waren ein Krisenjahrzehnt: Zunächst die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise, die die Europäische Union aufgrund der hohen Staatsverschuldung einiger Mitglieder besonders stark trafen. Danach der sprunghafte Anstieg an Flüchtlingen, der die Wähler und politischen Parteien spürbar polarisiert hat. Zeitgleich wurden auch die Auswirkungen der Klimaveränderungen immer stärker in Europa sichtbar. Und schließlich wurde Europa voll vom Ausbruch des Coronavirus erfasst, dessen Bekämpfung die Länder in eine tiefe wirtschaftliche Krise gestürzt hat.
Aber folgt auf die wirtschaftlichen, ökologischen und sozialen Herausforderungen der letzten Jahre auch eine Krise der demokratischen Regierungssysteme? Werden die Regierungen Europas instabiler und zerbrechen an den aktuellen Herausforderungen? Addendum hat diese Entwicklung anhand von vier Faktoren genauer untersucht. Dabei zeigt sich: So instabil und chaotisch wie einzelne Beispiele – etwa Spanien oder Großbritannien – nahelegen, sind Europas Regierungen nicht. Eine Trendumkehr in Richtung mehr Instabilität lässt sich dennoch eindeutig erkennen.
Die erste Entwicklung, die wir untersucht haben, ist die Anzahl an Wahlen pro Jahrzehnt. Man kennt diese Diskussion aus Österreich: Seit die SPÖ-ÖVP-Regierung 2007 die Legislaturperiode von vier auf fünf Jahre erhöhte, wurde nur eine Legislaturperiode nicht durch vorzeitige Wahlen beendet. Spanien und Großbritannien sind weitere, wenn auch extreme, Beispiele, wo in den letzten Jahren mehrfach gewählt werden musste. Aber gilt das für alle Länder Europas?
Ein zweites Anzeichen steigender Instabilität ist die Anzahl an Regierungsumbildungen: Der Regierungschef muss gehen, Minister werden ersetzt, oder einzelne Parteien verlassen die Regierung, sodass ein neues Kabinett gebildet werden muss.
Je häufiger Regierungen umgebildet werden, desto instabiler erscheinen sie. Beispiele dafür gab es im vergangenen Jahr einige: In Italien zerbrach im Sommer 2019 das Kabinett aus Lega Nord und Fünf-Sterne-Bewegung. Boris Johnson und Theresa May bauten ihre Kabinette inmitten der Brexit-Debatten mehrfach um, so wie es auch in Österreich zu drei unterschiedlichen Kabinetten kam. Und nun wird auch die Regierung Frankreichs umgebaut.
Ein dritter Faktor ist die Anzahl an Minderheitsregierungen. Diese Regierungsform verkörpert wie keine andere Instabilität: Ohne parlamentarische Mehrheit können Minderheitsregierungen jederzeit gestürzt werden und sind deshalb von der punktuellen Zusammenarbeit mit anderen Parteien abhängig. Minderheitsregierungen sind daher auch Ausdruck dafür, dass es Parteien schwerer fällt, ideologische Differenzen in einer gemeinsamen Regierung zu überwinden.
Minderheitsregierungen gibt es heute in knapp einem Drittel der hier untersuchten Länder, und auch in Österreich wurde nach der letzten Nationalratswahl zum ersten Mal seit langer Zeit die Möglichkeit einer Minderheitsregierung ernsthaft diskutiert. Gibt es einen allgemeinen Trend zu Minderheitsregierungen in den Parlamenten Europas?
Minderheitsregierungen sind das eine Extrem, Regierungen mit sehr vielen beteiligten Parteien das andere. Die aktuelle finnische Regierung umfasst beispielsweise fünf Parteien, aber auch in anderen Ländern sind in den vergangenen Jahren neue Parteien zunächst in die Parlamente und dann in die Regierungen gekommen.
Einige dieser Parteien, wie beispielsweise die deutsche AfD, die spanische Podemos oder Syriza in Griechenland, lassen sich dabei recht klar den Krisen dieses Jahrzehnts zuordnen. Die Frage ist: Gab es im vergangenen Jahrzehnt mehr Regierungen mit drei oder mehr Parteien?
Der Nachkriegskonsens, als wenige Parteien dauerhafte und stabile Regierungen bildeten, scheint in vielen Ländern Europas tatsächlich zu Ende. Der Trend zu mehr Instabilität bewegt sich jedoch noch im Rahmen früherer Entwicklungen und ist vorerst auf einzelne Länder begrenzt. Das bedeutet freilich nicht, dass sich dieser Trend nicht noch verstärken könnte – wenn in den kommenden Jahren die ökonomischen Konsequenzen der Corona-Bekämpfung voll zum Tragen kommen oder neue Krisen die Regierungen Europas noch weiter herausfordern.
Für diesen Beitrag wurden Daten aus dem ParlGov-Projekt verwendet, das für 30 europäische Länder alle Regierungen, Kabinette und Parlamentswahlen seit 1945 gesammelt hat.
Die Gruppe der „neuen“ Demokratien umfasst folgende Länder: Bulgarien, Kroatien, Zypern, die Tschechische Republik, Estland, Griechenland, Ungarn, Litauen, Lettland, Polen, Portugal, Rumänien, die Slowakei, Slowenien und Spanien.
Die etablierten Demokratien sind: Österreich, Belgien, Dänemark, Finnland, Frankreich, Deutschland, Island, Irland, Italien, Luxemburg, Malta, die Niederlande, Norwegen, Schweden und das Vereinigte Königreich. Die Schweiz wurde aufgrund des besonderen Regierungssystems nicht in die Analyse aufgenommen.