Der Todesfall im Überkopf-Karussell des Wiener Wurstelprater wirft eine Reihe von Fragen auf: Wie sicher ist das Fahrgeschäft? Wer wartet, wer kontrolliert? Wer überwacht die Abläufe, die den vielen Besuchern reines Vergnügen bereiten sollen? Wer achtet darauf, dass nicht Kinder oder angeheiterte Personen den Attraktionen gefährlich nahekommen können? Denn selbst wenn der 34-jährige Mann am Karsamstag des Jahres 2010 nicht aus der Gondel gestürzt, sondern, wie zunächst behauptet, in angeheitertem Zustand in die Gondeln gelaufen wäre, stellt sich die Frage, ob die Absperrung in der nach wie vor bestehenden Form ausreicht.
Im Zuge der Recherchen hat Addendum in den vergangenen Wochen mit zahlreichen Arbeitern gesprochen, die im Prater beschäftigt waren. Diese berichten über Missstände, die sich dort zugetragen haben sollen: Für Betreiber sei es am wichtigsten, dass der Fahrbetrieb ständig am Laufen sei. Es gehe ihnen hauptsächlich ums Geld. Sie würden Investitionen und Reparaturen aufschieben. Manchmal müssten Arbeiter während des Fahrbetriebs Hand anlegen, damit keine Pausen entstünden. Das sei dann gefährlich, berichten mehrere Ex-Schausteller übereinstimmend. Einer erzählt Addendum, dass er Reparaturen habe machen müssen, für die er nicht qualifiziert gewesen sei. Es sei eben niemand anderer da gewesen.
Die heutige Betreiberin des Extasy sagt, dass sie in den letzten Jahren beträchtliche Summen in die Sicherheit investiert habe.
Hans Vaclavic zählte zu den wenigen ganzjährig angestellten Fachkräften mit technischer Ausbildung. Der Maschinenschlosser, der bis vor kurzem sieben Jahre lang bei einem Praterbetrieb, der auch das Extasy betreibt, beschäftigt war, berichtet aus der Kontrollpraxis. Tenor: Weder die für die Stadt Wien prüfende Magistratsabteilung 36 noch der von den Betreibern beauftragte Sachverständige, der laut Gerichtssachverständigenliste unter anderem „Schaustellerbetriebe und Vergnügungsunternehmungen“ zu seinen Fachgebieten zählt, hätten in der Praxis penible Prüfungen zum Zustand der Anlagen durchgeführt.
Wie sehen die Kontrollen tatsächlich aus?
Der Wiener Praterverband erklärt, alles sei sicher, alle Betriebe würden – je nach Bescheid – ein- bis dreimal pro Jahr vom Gutachter geprüft. Der Chef des Schaustellerverbandes meint, das Vergnügen im Prater sei „sicherer als Bahnfahren“. Einen Überblick über die Qualifikation der im Prater beschäftigten Arbeiter gebe es nicht, das Problem sei jedoch, dass „selbst ein Diplomingenieur der Technik aufgrund des nicht anerkannten Berufes des Schaustellers im Prater als Hilfsarbeiter gelten würde“.
Eine schriftliche Anfrage bei der MA 36 vom 24. April blieb unbeantwortet. Auch telefonische Nachfragen liefen ins Leere. Wir hätten gerne gewusst, ob die jährliche Begehung durch ihre Kommission ausreiche und was alles genau getestet würde. Und wie der Magistrat die Aussagen vieler ehemaliger Schausteller zu herabstürzenden Fahrteilen und minderqualifizierten Mitarbeitern kommentieren würde. Dafür erfuhren wir von einem Prater-Insider, dass kurz nach unserer Anfrage an die städtische Behörde offenbar ein Kontrollor zu mehreren Praterbetrieben geschickt worden sei.
Ein ehemaliger Saisonarbeiter berichtet, dass es bei Wartungsarbeiten immer wieder zu gefährlichen Situationen gekommen sei. Auch durch Drogen- und Alkoholkonsum von Mitarbeitern.
Die Betreiberin verweist darauf, dass es ein striktes Verbot von Alkohol und Drogen gebe. 2017 sei es zu drei Verwarnungen gekommen. Wegen leerer Bierdosen im Kassahäuschen. Ein Mitarbeiter sei abgemeldet worden. Sie spreche zudem täglich mit ihren Mitarbeitern, ein aktueller Alkoholkonsum würde ihr auffallen.
Interessant erscheint im Zusammenhang mit den Praterkontrollen, dass der Gutachter, der einmal jährlich die Kontrollen an den Fahrgeschäften durchführt, von den Betreibern selbst ausgewählt werden darf. Seit vielen Jahren ist im Prater ein mittlerweile 78-jähriger Sachverständiger mit Sitz in der Innenstadt am Werk. Der Praterverband erklärt dies damit, dass es nicht so viele Experten für Vergnügungsparks gebe und der Mann eben seit vielen Jahren in die Materie eingearbeitet sei.
Vorwürfe ehemaliger Angestellter, der technische Experte würde nicht penibel prüfen, weist dieser über seinen Anwalt von sich: „Bei diesen Kontrollen und Überprüfungen handelt es sich um mehr als bloß oberflächliche ‚Augenschein-Begutachtungen‘, sondern um fach- und sachgerechte Überprüfungen. Es gibt dabei keinen allgemeinen Katalog, welcher abzuarbeiten wäre, da jede Anlage anders aufgebaut ist und die notwendigen Sicherheitseinrichtungen an die Anlage angepasst sind.“
Sein Rechtsvertreter teilt uns außerdem mit, dass sein Mandant neben dem Riesenrad „zahlreiche Rundfahrgeschäfte“ überprüfe und dort „gleichfalls Funktionskontrollen und Kontrollen aller Sicherheitseinrichtungen sowie, wenn notwendig, Ultraschallüberprüfungen“ durchführe.
Diese Statements überraschen doch einigermaßen. Denn die heutige Betreiberin des Extasy teilt mit, dass der gerichtlich beeidete Sachverständige „mit der Sicherheitstechnik nichts zu tun“ habe. Er sei „der Sachverständige für den jährlichen Statikbefund“.
Widersprüchliche Aussagen gibt es auch im Zusammenhang mit dem tödlichen Unglück im Frühjahr 2010. Die damalige Betreiberin bestreitet heute, dass eine sogenannte Bügelsicherung überbrückt worden sein könnte. Soll heißen: Der Verunglückte könne gar nicht aus der Gondel gefallen sein. Ihre Nachfolgerin wiederum meint, dass eine Überbrückung des Sicherheitssystems grundsätzlich möglich sei. Bei Reparatur- oder Reinigungsarbeiten konnte somit der Fahrbetrieb gestartet werden, ohne dass vorher immer ein Bügeltest durchgeführt werden musste.
Sollte ein Mitarbeiter an der Kasse, der auch das Fahrgeschäft in Betrieb setze, in das Kontrollsystem eingegriffen haben, dann wäre das eine missbräuchliche Verwendung gewesen. Seit 2016 sei dieser Eingriff in das System laut der Extasy-Chefin jedoch nur mehr mittels Passwort möglich. Nur ein Techniker und sie selbst hätten dafür die Berechtigung.
Noch verwirrender wird es, wenn man sich die Stellungnahme des Sachverständigen vor Augen führt: Die Bügelsicherung sei Gegenstand seiner Prüfung gewesen. Eine „allfällige Überbrückung“ wäre ihm „bei einer technischen Überprüfung jedenfalls aufgefallen“.
Interessant erscheint neben der Kontrollpraxis die Frage, ob die Stadt Wien überhaupt so genau wissen will, was im Prater vor sich geht. Den Eindruck, dass das nicht der Fall ist, könnte man auch deshalb gewinnen, weil man, wenn man die Stadt nach dem aktuellen Stand der Besitz- und Pachtverhältnisse im Vergnügungsareal fragt, von den Behörden im Kreis geschickt wird. Schon in den Wintermonaten war uns im Zuge erster Recherchen aufgefallen, dass sich hinter den Fassaden der Schausteller durchaus geräumige Wohneinheiten befinden, die offensichtlich ganzjährig bewohnt werden. Das seien „Betriebswohnungen“, betont der Chef des Praterverbandes, schließlich müssten die Betreiber ihre Betriebe überwachen. Alles in allem keine attraktive Wohngegend, ergänzt der Prater-PR-Mann, und was eine Villa sei, das sei doch immer eine Definitionsfrage. Stimmt. Einigen wir uns darauf: Im Prater versteckt sich beispielsweise eine „Betriebswohnung“ mit Indoorpool und Jacuzzi.