Im Rahmen des Projekts Staat ist Addendum der Frage nachgegangen, ob der Staat finanziell davon profitiert, dass seine Bürger rauchen. Zwei Studien wurden exemplarisch angeführt: eine des IHS zu Österreich und eine finnische Studie, die Daten zu Alterskohorten betrachtet. Beide berechnen zu den Kosten des Rauchens einen statistischen Wert der verlorenen Lebensjahre von Rauchern. Im Falle des IHS werden dabei nur die verlorenen Lebensjahre von Passivrauchern miteinbezogen. Letztere Studie berücksichtigt dabei auch den Wert der Lebensjahre, die aktiven Rauchern verloren gehen.
Solche Bewertungen finden im Rahmen von Kosten-Nutzen-Analysen statt. Diese versuchen, möglichst alle Konsequenzen aus politischen Maßnahmen zu bewerten und auf einen Maßstab aufzurechnen, in diesem Fall auf monetäre Größen. Die Anwendung solcher Evaluierungsmethoden ist dabei durchaus umstritten, ihre Nichtanwendung stellt sich aber als ebenso problematisch dar. Ihre Alternativen beseitigen das Problem nicht vollständig. Denn gegenüber einer expliziten oder impliziten Bewertung (in welcher Höhe auch immer) können nur zwei Propositionen stehen: Ein Menschenleben sollte dem Staat unendlich viel wert sein, oder es sollte überhaupt nicht bewertet werden. Beide Vorstellungen führen aber zu theoretischen Konflikten und widersprechen darüber hinaus der empirischen Beobachtung.
Tatsächlich beschränkt sich die Bewertung des Lebens nicht auf gesundheitsökonomische Studien, wie etwa die Bewertung der Toten durch Tabakkonsum. Sie wird immer dann relevant, wenn auf einer Kosten- und Nutzenseite Tod oder Überleben neben besser quantifizierbaren Geldkosten auftritt. Ein Beispiel liefert ein Paper der Ökonomen Mueller und Stewart. Sie stellen die Kosten der USA für Terrorismusprävention nach 9/11 in Relation zu den potenziellen Todesopfern und ökonomischen Schäden durch Terrorismus. Dabei wird das Leben eines Todesopfers mit etwa 7 Millionen US-Dollar bewertet. Das Ergebnis: Die Kosten der Antiterrormaßnahmen übersteigen die Nutzen der potenziellen Vermeidung der Schäden an Mensch und Material vermutlich bei weitem. Es ist also nach Erkenntnis der Ökonomen vermutlich ein Fehler, Geld in dieser Größenordnung auszugeben, um Todesopfer bei Anschlägen zu verhindern.
Aber wie kommen sie dazu, das menschliche Leben überhaupt zu bewerten? Sollte der Tod nicht um jeden Preis verhindert werden, das Aufrechnen von Menschenleben und die Kosten für Homeland Security ethisch nicht vertretbar sein? Die bestmöglichen Sicherheitsvorkehrungen getroffen werden?
Nein, nicht unbedingt.
Stellen Sie sich Folgendes vor: Anstatt das Geld für die Bekämpfung von Terrorismus zu verwenden, hätten die USA in bessere Gesundheitsvorsorge investieren können. Das könnte wahlweise durch Prävention von Krankheiten, Ausweitung von verbesserten Behandlungsmethoden oder die Förderung aussichtsreicher medizinischer Forschung ebenfalls (frühzeitige) Tode verhindern. Rentieren sich diese Investitionen stärker (vulgo: retten mehr Leben), so sollte sich der Staat statt eines Ausbaues der Terrorismusprävention dafür entscheiden. In einer idealen Welt existiert dafür genau eine Zahl, die die Grenzkosten zur Erhaltung eines Menschenlebens darstellt.
Aus dieser Perspektive scheint die Bewertung des Menschenlebens nun auf einmal überhaupt nicht absurd. Sie dient als Vergleichswert, um Ressourcen möglichst effizient einzusetzen. Kurz ausgedrückt: Wir leben in einer Welt von begrenzten Ressourcen. Der Staat ist in seinen Ressourcen begrenzt. Er muss sich zwischen Maßnahmen entscheiden, die mehr oder weniger Menschenleben retten, verlängern oder das menschliche Leben in einer gangbaren Art verbessern.
Abgesehen davon beobachten wir, dass der Staat mit seinen Entscheidungen implizit eine Bewertung des Menschenlebens vornimmt. Im Jahre 1987 etwa entschieden die USA, das einheitliche Tempolimit aufzuheben und es den Bundesstaaten freizustellen, wie schnell auf ihren Straßen gefahren werden darf. Als Resultat erhöhten einige Bundesstaaten ihr Speed Limit, andere nicht. Aus der Erhöhung der Unfalltoten in den Bundesstaaten mit höheren Tempolimits konnte im Nachhinein beurteilt werden, wie viele zusätzliche Tote die Policy verursacht hat. Auf der Nutzenseite steht die Zeitersparnis, die durch schnellere Wege realisiert wurde. Die Autoren Ashenfelter und Greenstone kamen so auf 125.000 Stunden Zeitersparnis im Jahr, die einem zusätzlichen Toten im Straßenverkehr gegenüberstehen. Die Forscher bewerteten anschließend die Stundenzahl mit dem Lohn, der in dieser Arbeitszeit erwirtschaftet werden könnte. So kommen sie auf 1,54 Millionen US-Dollar, für die der Staat im Zuge der Reform ein menschliches Leben in Kauf genommen hat.
Es veranschaulicht aber, dass durch politische Entscheidungen oft ein Trade-off zwischen dem Tod von Menschen, individuellen Freiheiten und monetären Größen entsteht. Eine implizite Bewertung des Menschenlebens wird dann durch den Staat vorgenommen, selbst wenn sie nicht explizit gemacht wird.
Die obige Argumentation klärt aber noch nicht vollständig, warum sich der Staat um die Gesundheit seiner Bürger sorgen sollte. Aus einer individualistischen Perspektive heraus könnte der Staat dem Tod durch Tabakkonsum indifferent gegenüberstehen. Seine Bürger haben die Entscheidung getroffen, anstatt länger zu leben zu rauchen. Den Schaden, der ihnen dadurch entsteht, haben sie selbst zu tragen. Die Konsequenz daraus wäre, dass das Leben des Rauchers gar nicht in die Analyse miteinbezogen werden sollte.
Allerdings berücksichtigt dies zunächst nicht, dass durch die Entscheidung des Staates Dritte zu Schaden kommen. Im Beispiel der Erhöhung des Tempolimits ist davon auszugehen, dass im Straßenverkehr auch Personen verletzt werden oder zu Tode kommen, die sich selbst für ein langsameres Fahren entscheiden. Analog dazu wird die Gesundheit von Passivrauchern an öffentlich zugänglichen Orten beeinträchtigt, obwohl sich diese gegen das Rauchen entschieden haben. Die Entscheidung, zumindest den Tod und die gesundheitlichen Beeinträchtigungen von Passivrauchern mit in die Berechnung zu nehmen, ist dadurch wohlbegründet.
Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob der Staat in der Setzung seiner Policys menschliches Ableben tatsächlich unberücksichtigt lassen sollte. Man stelle sich vor, zwei alternative Politikmaßnahmen bringen dem Staat und seinen Bürgern monetäre Vorteile in gleich hohem Ausmaß. Eine davon verursacht aber in letzter Konsequenz den Tod von hundert Menschen. Sollte tatsächlich Unentschlossenheit zwischen den beiden Alternativen bestehen? Die Argumentation hängt somit auch an der Frage, inwiefern ein Staat die Legitimation besitzen sollte, seine Bürger vor ihrem eigenen schadhaften Verhalten zu schützen. Gerade eben bezüglich verbotener Suchtmittel hat sich diese Schutzfunktion aber abseits von Tabak- und Alkoholkonsum in den meisten Industrienationen etabliert.
Tatsächlich existiert kein einheitliches Konzept dafür, wie determiniert wird, welcher Wert in ökonomischen Studien (so es nicht vermeidbar ist) eingesetzt werden sollte. Die Methoden reichen von Schätzungen über die Kosten der Behandlung von Patienten zur Lebensverlängerung (ökonomischer Slang: Grenzkosten zur Erhaltung eines Menschenlebens) über die oben dargestellte implizite Bereitschaft, ein Menschenleben zu opfern (ökonomischer Slang: Revealed Preferences des Staates), bis hin zur Befragung von Menschen, was sie denn bereit wären zu zahlen, um ein Jahr länger zu leben (ökonomischer Slang: Willingness to pay). Daher gibt es auch keinen einheitlichen Wert.
Während eine explizite Bewertung durch Behörden in Österreich nicht gängig ist, haben US-Departments zum Teil eigene Vorgaben, wie hoch ein Menschenleben in den von ihnen beauftragten Studien bewertet werden soll. Das Department of Transportation etwa mit 9,6 Millionen US-Dollar für Evaluationen im Jahr 2016. In modernen gesundheitsökonomischen Studien werden Lebensjahre auch qualitativ nach der Gesundheit von Patienten abgestuft. Mithilfe von sogenannten Quality Adjusted Life Years (Qualys). So kann es sein, dass ein Lebensjahr eines gesundheitlich stark beeinträchtigten Menschen nur etwa halb so stark gewichtet wird wie ein Menschenleben, bei dem kaum Einschränkungen in der Lebensqualität bestehen.
Trotz einer gewissen Unausweichlichkeit der Problematik bleibt die Bewertung sowohl innerhalb als auch außerhalb der Ökonomie umstritten. Das veranschaulichen sowohl ein Blick in die Geschichte als auch aktuelle Gegebenheiten. So wird in einem US-Paper aus dem Jahr 1964 das Lebenszeiteinkommen von Personen zur Bewertung herangezogen. Dies führt unmittelbar dazu, dass für Frauen und Afroamerikaner ein niedrigerer Wert veranschlagt wurde als für weiße Männer. In der heutigen Zeit bedingen sich solche Problematiken vor allem durch Einkommensunterschiede zwischen Ländern. In Österreich ist ein Menschenleben mehr wert als beispielsweise in Russland. Das mag ebenfalls missfallen. Es spiegelt aber abermals die Realität wider, dass in Österreich mehr Geld ausgegeben wird, um einen Menschen am Leben zu erhalten, als in anderen Ländern.