Das Bild vom Schweigekanzler, überprüft
Ist Sebastian Kurz wirklich der Erbe des „Schweigekanzlers“ Wolfgang Schüssel, wie seine Kritiker ihm vorwerfen? Auf eine gewisse Art ja – wenn man nur betrachtet, wie oft er Zeitungen und Magazinen Interviews gibt. Es gibt aber auch Unterschiede, etwa in der Regelmäßigkeit der Auftritte.
DatenMessage control, Schweigekanzler 2.0, #answerlikekurz“: Bundeskanzler Sebastian Kurz wird von seinen Kritikern in Opposition und Medien häufig vorgeworfen, der Öffentlichkeit zu selten Rede und Antwort zu stehen – und wenn, dann nur mit diffusen, nichtssagenden Antworten.
Nun ist das ein Vorwurf, dem weltweit viele Spitzenpolitiker ausgesetzt waren und sind – vor allem, wenn das, was sie dann doch inhaltlich sagen, den Kritikern gar nicht passt. Aber es ist auch einer, den man relativ gut nachprüfen kann. Addendum hat sich in Medienarchiven auf die Suche gemacht, wie oft Kurz und die beiden Kanzler vor ihm, die mit einer neuen Koalition angetreten sind, in den ersten 100 Tagen ihrer Amtszeit Zeitungen und Magazinen Interviews gegeben haben: Alfred Gusenbauer im Jahr 2007 und Wolfgang Schüssel im Jahr 2000.
(Weil die durchsuchbaren Transkripte von TV- und Radiosendungen in diesem Zeitraum nicht vollständig sind, bleiben sie in dieser Aufstellung außen vor – vor allem der ORF hat aber immer wieder kurze Soundbites und längere Interviews von allen Kanzlern bekommen, Kurz etwa ist allein den Transkripten der Ö1-Journale zufolge zwischen 18. Dezember und 28. März fünfmal interviewt worden.)
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Zeit, die seit Angelobung der Regierung Kurz am 18. Dezember 2017 vergangen ist.
Gusenbauer: Doppelt so oft im Interview wie die „Schweigekanzler“
Zunächst einmal die nackten Zahlen: Bundeskanzler Kurz kommt dem APA-Medienarchiv nach (inklusive zahlreicher Doppel-Interviews gemeinsam mit Vizekanzler Heinz-Christian Strache) auf 14 Interviews in österreichischen Tages- und Wochenzeitungen in seinen ersten 100 Tagen im Amt. Damit schließt er zumindest der Zahl nach an die Tradition Wolfgang Schüssels an, der im selben Zeitraum vor 18 Jahren 15 Interviews gegeben hatte. Anders der „Wende-Wendekanzler“ dazwischen: Alfred Gusenbauer hat in seinen ersten 100 Tagen als Bundeskanzler 30 Interviews gegeben – also mehr als Schüssel und Kurz zusammen.
Das ist die eine Sache: Fast noch interessanter ist aber, wie sich diese Interviews über den Lauf der 100-Tage-Frist verteilen:
Wir sehen hier, dass Kurz seine Interviews zu Beginn seiner Kanzlerschaft und mit Ende der symbolträchtigen 100-Tage-Periode01 konzentriert hat – dazwischen hat er sich über weite Strecken interviewmäßig zurückgehalten, zumindest in österreichischen Medien. (Auch hier gab es Ausnahmen, etwa ein langes europapolitisches Gespräch mit dem Standard.)
Das steht in deutlichem Gegensatz zur Interviewpolitik Gusenbauers:
Der Kurzzeitkanzler der rot-schwarzen Koalition 2007/2008 hat nicht nur eine wesentlich höhere Zahl an Interviews gegeben, diese haben sich auch gleichmäßiger über die 100 Tage verteilt. Geblockte Interviewtermine, wie sie in den vergangenen Jahren immer häufiger werden – Politiker empfangen einen Nachmittag lang im Stundentakt andere Medien, die Gespräche erscheinen dann gleichzeitig – waren damals noch nicht so verbreitet.
Ähnlich das Bild bei der Verteilung der Interviews mit Wolfgang Schüssel:
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Auch der originale (von seinen Kritikern so titulierte) „Schweigekanzler“ hat, wie man hier sieht, ein regelmäßiges Grundrauschen aufrechterhalten, statt gezielt geblockte Auftritte zu pflegen.
Jetzt gibt es mehrere Varianten, wie man diese Unterschiede interpretieren kann: Man könnte es der professionelleren „message control“ der Regierung Kurz zuschreiben, dass der Kanzler nicht ständig als „Feuerlöscher“ ausrückt, sondern die Minister für sich sprechen lässt (und lassen kann). Man könnte es auch so lesen, dass Kurz nur dann Interviews gibt, wenn er etwas kommunizieren will und deren Wert durch künstliche Verknappung nach oben treibt.
Neue Medienwelt
Oder man kann diese geänderten Umstände unter dem Gesichtspunkt sehen, dass sich nicht nur die Politik, sondern auch die Medien weiterentwickelt haben: Interviews in Zeitungen und Magazinen haben heute schon allein angesichts der Möglichkeiten der digitalen Kommunikation einen anderen (und argumentierbarerweise geringeren) Stellenwert als noch vor elf Jahren in der Ära Gusenbauer: Allein über die Sozialen Medien erreichen Politiker wie Kurz ein größeres Publikum als über die meisten Zeitungen – und ohne kritische Zwischen- und Nachfragen.
All das lässt außerdem außer Acht, dass es ja vor allem nicht darauf ankommt, wie oft jemand etwas sagt – sondern darauf, was er sagt. Zehn Interviews, in denen inhaltsleer herumphrasiert wird, können weniger sagen als eines, in dem ein Kanzler eine klare inhaltliche Linie zeichnet.
Aber das lässt sich schwer in Zahlen fassen.
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