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Wer im Nationalrat sitzt: Lehrer, Bauern und Berufspolitiker
2. September 2020 Repräsentation Lesezeit 7 min
Wie repräsentativ ist das Parlament? Eine Analyse zeigt: Die Mehrheit der Abgeordneten sind Berufspolitiker. Auch Anwälte, Bauern und Lehrer sind stark überrepräsentiert. Den klassischen „Arbeiter“ und Angestellte findet man wiederum nur selten.
Dieser Artikel gehört zum Projekt Repräsentation und ist Teil 6 einer 6-teiligen Recherche.
Bild: Florian Schrötter | EXPA

„Das Parlament ist der zentrale Ort jeder Demokratie. Hier sollen die Interessen möglichst vieler BürgerInnen vertreten sein“, liest man auf der Website des österreichischen Bundes- und Nationalrats. Doch ist das mit den aktuellen Mandataren möglich? Einen Querschnitt der Bevölkerung findet man im Parlament jedenfalls nicht: Die meisten Abgeordneten widmen sich hauptberuflich der Politik, gefolgt von Selbstständigen und öffentlich Bediensteten. Andere stammen aus Interessenvertretungen wie der Arbeiterkammer oder dem österreichischen Gewerkschaftsbund. Arbeiter und Angestellte gibt es wiederum nur wenige.

93 von 183 Abgeordneten sind hauptberuflich in der Politik

Das Parlament und die Politik als Parallelwelt, die sich vom „gemeinen Wahlvolk“ entfremdet hat und eigenen Gesetzmäßigkeiten gehorcht? Derartige Kritik ist nicht neu. Der deutsche Soziologe und Mitbegründer der modernen Politikwissenschaft Robert Michels sprach in seiner Soziologie des Parteiwesens schon 1925 von der „Unmöglichkeit der Existenz einer Idealdemokratie“, gar einer „oligarchischen Krankheit der demokratischen Parteien“. Vier Jahrzehnte später folgte ihm der deutsche Philosoph Karl Jaspers nach, als er von den Bürgern als „Untertanen, nicht Träger des Staates“ sprach: „Sie wählen alle vier Jahre eine ihnen vorgelegte Liste, aber wissen nicht eigentlich was. Denn sie haben sich zu fügen. Zunächst den Vorschlägen der Parteien, dann der Obrigkeit, die sich für ihre Autorität auf das Volk beruft, das sie gewählt habe.“

Andererseits ist Politik eine durchaus komplexe und – zumindest dann, wenn man sie ernst nimmt – intensive Angelegenheit. In der seit 23. Oktober 2019 laufenden Gesetzgebungsperiode gab es bereits 48 Plenarsitzungen, bei den Abstimmungen sind bei allen Parteien mit Ausnahme der FPÖ gut 90 Prozent der Abgeordneten anwesend (bei der FPÖ sind es 83 Prozent).

Insofern scheint es wenig verwunderlich, dass mehr als die Hälfte der Abgeordneten – 93 von 183 – sogenannte Berufspolitiker sind: Sie üben neben ihren politischen Tätigkeiten also keinen anderen (Vollzeit-)Beruf aus.

Viele von ihnen bekleiden allerdings neben ihrem Nationalratsmandat weitere politische Ämter, zwölf Abgeordnete sind zusätzlich Bürgermeister ihrer jeweiligen Gemeinden. Wir haben außerdem auch die karenzierten beziehungsweise freigestellten öffentlich Bediensteten (etwa Eva Blimlinger von den Grünen oder Reinhard Eugen Bösch von der FPÖ) dieser Kategorie zugeordnet.

Bei kleineren Parteien gibt es besonders viele Berufspolitiker: Bei den NEOS 11 der 15 Abgeordneten, bei den Grünen 19 von 26. Auch Philippa Strache, die einzige „wilde Abgeordnete“, gab uns auf Nachfrage „Abgeordnete zum Nationalrat“ als Beruf an. Die gängige Erklärung für diesen hohen Anteil liegt darin, dass kleine Parteien nicht dieselben personellen und finanziellen Ressourcen haben wie die älteren Großparteien – engagierte Abgeordnete müssen also wesentlich mehr selbst erledigen.

Bei der SPÖ ist immer noch über die Hälfte ihrer 40 Abgeordneten (22, um genau zu sein) hauptberuflich in der Politik, bei der FPÖ sind es 13 von 30 Abgeordneten. Den geringsten Anteil an Berufspolitikern weist die ÖVP mit 27 von 71 Mandataren aus.

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zwei von ihnen – Ulrike Brandstötter und Helmut Brandstätter – geben allerdings ausdrücklich ihre Autorentätigkeiten an, zwei weitere – Douglas Hoyos-Trauttmansdorff und Nikolaus Scherak – haben vor kurzem gemeinsam eine GmbH gegründet.

Angela Baumgartner, Hans Stefan Hintner, Michael Hammer, Manfred Hofinger, Friedrich Ofenauer, Joachim Schnabel, Johann Singer und Christoph Stark von der ÖVP, Andreas Kollross, Klaus Köchl und Alois Schroll von der SPÖ und Erwin Angerer von der FPÖ

Unternehmer- und Bauernpartei ÖVP

Die zweitgrößte Gruppe der Abgeordneten sind die 44 Selbstständigen, wobei 15 von ihnen Landwirte sind (in Einzelfällen war nicht immer ganz klar, ob eine genuin-selbstständige Tätigkeit vorliegt). Bei der ÖVP ist der Anteil der Selbstständigen mit 27 – und damit weit über einem Drittel – am höchsten (inklusive der elf ÖVP-Landwirte). Bei der SPÖ gibt es wiederum lediglich zwei selbstständige Abgeordnete (den Augenoptiker Reinhold Einwallner und den Wirtschaftsprüfer Christoph Matznetter), bei der FPÖ vier, bei den Grünen ebenfalls vier und bei den NEOS drei. Das ist in Summe ein gutes Viertel des Nationalrats, also doppelt so viele wie in der Gesamtbevölkerung, wo nur 12 Prozent der Erwerbstätigen Selbstständige sind (zieht man die Landwirte ab, sind es im Nationalrat immer noch 18,5 Prozent).

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Öffentlicher Dienst

Auch der öffentliche Dienst wird im Nationalrat mit 18 Abgeordneten und damit knapp unter 10 Prozent des Nationalrats gut vertreten (zumal zehn weitere von ihnen für die Politik  ganz oder teilweise karenziert sind): von Universitätsprofessoren (Josef Smolle (ÖVP) über Bundesheer-Kommandanten (Alois Kainz/FPÖ) bis hin zum Ministerialrat im Innenministerium (Wolfgang Gerstl/ÖVP, bei dem diese Doppelfunktion auch für vehemente Kritik sorgt) findet man Beamte und Vertragsbedienstete aus den unterschiedlichsten Bereichen. Den größten Anteil findet man bei der FPÖ mit einem Fünftel ihrer Abgeordneten, gefolgt von der SPÖ mit vier, der ÖVP mit sechs und den Grünen mit zwei. Die NEOS haben als einzige Partei keine Abgeordneten aus dem öffentlichen Dienst. In der erwerbstätigen Bevölkerung sind rund 10 Prozent im öffentlichen Dienst tätig.

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Wenige Angestellte, nur ein Arbeiter

Anders sieht es bei Arbeitern und Angestellten aus. Während die Hälfte aller Erwerbstätigen in der Bevölkerung – 52 Prozent – Angestellte sind, liegt ihr Anteil im Nationalrat lediglich bei knapp über 7 Prozent: fünf der insgesamt 13 Parlamentarier aus diesem Berufsstand gehören der ÖVP an, vier der SPÖ, zwei der FPÖ und jeweils ein Abgeordneter den Grünen und den NEOS. Außerdem sind sechs von ihnen leitende Angestellte (davon fünf Geschäftsführer), zwei arbeiten für ihre Partei, und zwei sind Notariatskandidaten (die beiden FPÖ-Abgeordneten). „Klassische“ Angestellte sind im Nationalrat also stark unterrepräsentiert. Bei den Arbeitern sieht die Sache noch schlechter aus, gerade einmal ein Abgeordneter fällt in diese Kategorie: der Produktionstechniker und VOEST-Alpine-Betriebsrat Dietmar Keck von der SPÖ (im Übrigen ist auch der SPÖ-Abgeordnete Andreas Kollross gelernter Elektroinstallateur, übt diesen Beruf allerdings nicht aus).

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Auffällig: Bauern, Lehrer und Anwälte

Auffällig ist der hohe Anteil von Landwirten, Lehrern und Anwälten. Wie oben angemerkt, sind im ÖVP-Klub elf Landwirte, dazu jeweils zwei bei FPÖ und Grünen. Das ist ein gutes Drittel aller Selbstständigen im Nationalrat und 8,2 Prozent aller Abgeordneten insgesamt. In der erwerbstätigen Bevölkerung beläuft sich der Anteil der Landwirte auf lediglich rund 3,3 Prozent.

Außerdem sind unter den Abgeordneten sechs Lehrer, wobei vier von ihnen (teil-)karenziert sind (außerdem war Gabriele Heinisch-Hosek bis 2002 Lehrerin für Schwerhörige), in der Gesamtbevölkerung arbeiten etwa 300.000 Menschen im Bildungsbereich.

Dazu kommen noch fünf Anwälte (beziehungsweise sechs, wenn man die geprüfte, aber derzeit nicht in der Rechtsanwaltskammer eingetragene FPÖ-Abgeordnete Susanne Fürst dazuzählt), während es in Österreich insgesamt 6.667 gibt. Interessanterweise findet man im Nationalrat außerdem nur einen Quasi-Pensionisten (Rudolf Taschner von der ÖVP, der aber nebenbei noch Beratungs-, Vortrags- und Autorentätigkeiten nachgeht), dafür aber drei Studierende (Klaus Lindinger und Claudia Plakolm von der ÖVP sowie David Stögmüller von den Grünen).

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Interessenvertretungen

Bleibt die letzte größere Kategorie, die zwölf Interessenvertreter. Hier haben wir uns auf jene konzentriert, die dort tragende Funktionen einnehmen beziehungsweise dem Anschein nach einen Großteil ihrer Zeit dafür aufbringen: Sieben von ihnen sind Gewerkschafter (eine ÖVP-Abgeordnete und sechs von der SPÖ; wir haben Alois Stöger, der als „leitender Sekretär für Soziales PRO-GE“ fungiert, sich selbst aber als Abgeordneten einstuft, dazugezählt) und ein Arbeiterkammer-Vertreter (SPÖ). Bei der ÖVP haben wir auch Vertreter beim Österreichischen Arbeitnehmerinnen- und Arbeitnehmerbund ÖAAB, eine Partei-Vorfeldorganisation, dieser Kategorie zugeordnet. Dazu kommen der Vorstandsvorsitzende des Österreichischen Genossenschaftsverbandes Peter Haubner, Karlheinz Kopf von der WKO und Hermann Gahr von der Tiroler Landwirtschaftskammer.

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Politische Parallelwelt?

Man sieht: Im Vergleich zur Erwerbsbevölkerung bildet das Parlament die Bevölkerung also nur bedingt ab. Arbeiter und Angestellte sind äußerst schlecht vertreten, Landwirte oder öffentlich Bedienstete wiederum übermäßig stark. Inwiefern andere gesellschaftlich wertvolle Tätigkeiten wie Pflegemütter (Rosa Ecker von der FPÖ) abgebildet sind, lässt sich nur schwer sagen.

Andererseits bedeutet diese Zusammensetzung nicht zwingend, dass die Interessen von im Parlament unterrepräsentierten Gruppen nicht entsprechend vertreten werden. So wie viele Abgeordnete eines Berufsstands auch nicht automatisch dazu führen, dass deren Interessen stärker gehört werden. Politik ist eben kompliziert. 

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