Sie wären gefragt, wenn Schüler längere Zeit den Unterricht schwänzen. Auch wenn der Verdacht besteht, dass Kinder daheim vernachlässigt oder misshandelt werden, sollten sie zur Stelle sein. Ebenso, wenn es in der Schule zu schwerwiegenden Konflikten oder sogar zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kommt. Und wenn Drogenprobleme publik werden, sollten sie ihre Expertise einbringen.
Die Rede ist von Schulsozialarbeitern, die Lehrern und Schülern bei Problemen unterschiedlicher Art und Ausprägung zur Seite stehen, Eltern notfalls an Institutionen wie die Schuldnerberatung vermitteln und wenn möglich auch noch Präventionsarbeit leisten sollten. Die Aufgaben, die die Stadt Wien einem Evaluationsbericht aus dem Jahr 2011 zufolge an die Sozialarbeiter stellt, sind also äußerst umfangreich.
Gemessen an der Fülle der Tätigkeiten steht aber nicht sonderlich viel Personal zur Verfügung. Im zehnten Wiener Gemeindebezirk gibt es beispielsweise unseren Recherchen zufolge nur einen Sozialarbeiter für rund 12.000 Pflichtschüler.
Wie viele Fachkräfte es in ganz Wien gibt, ist kaum eruierbar, weil die zuständigen Stellen unterschiedliche Zahlen nennen. Nach Auskunft der Stadt Wien gibt es 70 Schulsozialarbeiter – 27 davon würden von der Stadt bezahlt, 43 vom Bildungsministerium, also vom Bund. Im Bildungsressort heißt es auf Anfrage von Addendum, es würden 20 Sozialarbeiter für Wien zur Verfügung gestellt. Auf Nachfrage, wie es zu dieser Differenz bei den Zahlen kommt, bekamen wir keine Antwort. Würde man davon ausgehen, dass die Stadt einen besseren Überblick haben müsste als der Bund, kämen in Wien auf einen Schulsozialarbeiter 1.480 Schüler (bzw. 2.200, wenn man die Ministeriumsangaben heranzieht).
Der Stadtschulrat teilte uns mit, dass eine Fachkraft rund 1.000 Schüler betreut. Wie passt das zusammen? Es würde nicht für jede Schule einen Sozialarbeiter geben, erklärt man im Büro von Präsident Heinrich Himmer. Die vom Bund finanzierten Sozialarbeiter würden nach einem „Chancenindex“ verteilt. Dieser würde individuell für jede Schule anhand der „erhöhten sozialen Herausforderungen“ berechnet. Genaueres erfährt man nicht. Über den Einsatz der von der Stadt bezahlten Sozialarbeiter entscheiden die Bezirksschulinspektoren, hören wir bei unseren Recherchen von Lehrern, und so steht es auch im erwähnten Evaluierungsbericht.
So viel zur Theorie. Wie funktioniert die Praxis?
Addendum hätte gerne mit Schulsozialarbeitern gesprochen. Sie dürfen aber ebenso wie Lehrer nur mit Genehmigung des Stadtschulrats mit Medien reden. Diese bekamen wir trotz mehrmaliger Anfrage nicht – und ohne die offizielle Sprecherlaubnis wollten auch die von uns kontaktierten Experten keine Auskunft über ihren Arbeitsalltag geben.
In Hintergrundgesprächen mit Lehrern erfuhren wir, dass es in der Praxis unterschiedlich gut oder schlecht funktioniert. Im 22. Bezirk ist beispielsweise ein Sozialarbeiter für zwei Schulen zuständig. So gehen sich in beiden Schulen drei Sprechstunden pro Woche aus. Die Zusammenarbeit funktioniere sehr gut, hört man von Lehrkräften.
Im elften Bezirk sei die Situation wesentlich angespannter, schildert uns ein Lehrer einer Neuen Mittelschule, die er als „Brennpunktschule“ bezeichnet:
Für Brennpunktschulen gibt es nach wie vor keine verbindliche Definition. Meist wird darunter verstanden, dass es in einer solchen Schule viele Schüler mit Migrationshintergrund und/oder einer anderen Muttersprache als Deutsch gibt. Viele Schüler kommen aus sozial schwächeren Schichten.
Einer anderen „Brennpunktschule“ in einem anderen Bezirk wurde im Vorjahr ein Sozialarbeiter zugeteilt, nachdem Probleme auch außerhalb der Schule wahrgenommen worden waren. Dieser Mitarbeiter kündigte aber nach drei Monaten; warum, ist unklar. Dadurch waren jedenfalls gleich mehrere Schulen ohne Sozialarbeiter. Die Stelle ist bis heute nicht nachbesetzt.
Auch in der Neuen Mittelschule in der Deublergasse im 21. Bezirk fehlen Unterstützungskräfte für Lehrer und Schüler, berichtet Direktor Christian Klar: „Ich sollte schon seit einem Jahr eine Sozialarbeiterin für ein paar Stunden pro Woche bekommen, und dieser Posten ist einfach noch nicht besetzt. Das außerschulische Personal, das wir unbedingt brauchen, würde etwas ändern. Das sind Beratungslehrer, Sozialarbeiter, Psychagogen, Psychologen, vielleicht auch ein bisschen Polizeiunterstützung, und da gibt es relativ wenig.“
Als man die Schulsozialarbeiter einführte, war das Betreuungsverhältnis wesentlich besser. Gestartet wurde das Projekt 2009 an 27 Pilotschulen, für die jeweils ein Schulsozialarbeiter zuständig war. Im Schnitt kamen so 301 Schüler auf einen Experten.
Neun Hauptschulen, sechs Kooperative Mittelschulen, eine Polytechnische Schule, zwei Allgemeine Sonderschulen, zwei Sonderpädagogische Zentren und sieben Neue Mittelschulen
Der Betreuungsschlüssel hat sich also seit dem Projektstart deutlich verschlechtert. Je nachdem, welche Daten man heranzieht (jene der Stadt Wien oder jene des Bildungsministeriums), hat sich die Zahl der zu betreuenden Schüler pro Sozialarbeiter verdrei- bis versiebenfacht. Noch dazu ist fraglich, ob die gegenwärtigen Fachkräfte auch weiterhin finanziert werden.
Denn nur 27 Schulsozialarbeiter werden, wie geschildert, von der Stadt Wien beschäftigt. Die Gehälter der über den Bund angestellten Personen werden aus einem Integrationstopf bezahlt. Bei unseren Recherchen wurde offensichtlich, dass Lehrer Mittelkürzungen befürchten. Diese Ängste könnten berechtigt sein. Denn auf der Website des Bildungsministeriums erfährt man, dass bundesweit Projekte zur Schulsozialarbeit eingestellt wurden.
Medienberichten zufolge soll das Budget für Integrationsmaßnahmen im Schulbereich halbiert werden. Im Bildungsministerium erklärte man dazu auf Addendum-Anfrage, das Budget sei noch nicht beschlossen, daher könne man „noch keine Angaben zum Fortbestand des Integrationstopfs und damit einhergehenden Projekten machen“.
Für Integrationsprojekte wurden nicht nur Schulsozialarbeiter und Schulpsychologen angestellt – auch Mitarbeiter für „Integrative Maßnahmen“, Sprachförderung und sechs mobile interkulturelle Teams wurden eingeführt. Insgesamt wurden seit 2016 in all diesen Berufsgruppen rund 320 Personen für Integrationszwecke in Wien eingesetzt. Finanziert wurde das aus dem Integrationstopf des Bildungsministeriums, dessen Fortbestand äußerst fraglich ist.
Wiens Stadtschulratspräsident Himmer kritisiert im Addendum-Interview, dass die Stadt immer nur für ein Jahr im Voraus wisse, wie viel Fachpersonal vom Bund finanziert werde: „Jetzt überlegen Sie sich einmal, wie viele und wie gute Sozialarbeiterinnen und -arbeiter Sie bekommen, wenn Sie einerseits immer nur jährlich befristete Verträge haben, die immer mit dem Kalenderjahr enden, und Sie nicht wissen, wie es weitergeht.“ Die von Himmer im Interview genannten 150 Fachkräfte umfassen nicht nur Sozialarbeiter (siehe rechts).
„Den Empfehlungen des RH, den Verein ,Österreichisches Zentrum für psychologische Gesundheitsförderung im Schulbereich‘ (ehemals: ,Österreichisches Zentrum für psychologische Gewaltprävention im Schulbereich‘) aufzulösen und die dort angestellten Psychologinnen und Psychologen als Schulpsychologinnen und -psychologen in den Bundesdienst überzuführen, kam das Bundesministerium für Bildung aufgrund weiterhin fehlender Planstellen nicht nach.“
Hintergrund dieser Praxis sind nicht nur die fehlenden Planstellen. Mithilfe derartiger Anstellungsverhältnisse werden Personalkosten als Sachkosten abgerechnet, die Planstellen werden also einfach umgangen. Über die Vorgehensweise oder den Arbeitsalltag der Schulpsychologen sind beim ÖZPGS allerdings keine Informationen verfügbar (die über den Jahresbericht hinausgehen). Beim Verein verweist man auf das Bildungsministerium als übergeordnete Stelle, ohne Genehmigung seien keine Gespräche möglich.
Wie bei den Schulsozialarbeitern ist auch die Bezahlung der Schulpsychologen zwischen Bildungsministerium, Vereinen und der Stadt Wien aufgeteilt. Langfristige Personalplanungen sind daher nicht möglich. Auch die Frage, wie viele solcher Fachkräfte in der Bundeshauptstadt eingesetzt werden, ist nicht mit Gewissheit zu beantworten. Denn die Zahlen, die die zuständigen Stellen auf Anfrage mitgeteilt haben, differieren. Laut Stadtschulrat gibt es in Wien 31 Schulpsychologen. Im Büro von Bildungsstadtrat Jürgen Czernohorszky spricht man von 39. Das Bildungsministerium wiederum bezahlt laut eigenen Angaben 37 Psychologen, nicht inkludiert sind die bei der Stadt Wien angestellten Schulpsychologen. Das Anstellungswirrwarr wurde kürzlich vom Rechnungshof kritisiert.
Laut Wiener Stadtschulrat hat die Stadt 25 Planstellen für Schulpsychologen, weitere sechs Mitarbeiter sind über das ÖZPGS (Österreichisches Zentrum für psychologische Gesundheitsförderung in Schulen) angestellt.
Aus dem Büro des Bildungsstadtrats Jürgen Czernohorszky werden 25 Schulpsychologen der Stadt Wien und 14 Schulpsychologen über den Verein „Kinder- und Jugendbetreuung Wien“ gemeldet.
Das Bildungsministerium dagegen spricht von acht Schulpsychologen des ÖZPGS und 29 Schulpsychologen als Bundesbedienstete. Angaben über Angestellte der Stadt Wien wurden nicht gemacht.
Welche Zahlen letztlich auch stimmen, sie zeigen jedenfalls, dass das Angebot an Schulpsychologen nicht übermäßig groß ist. Im Stadtschulrat wird erklärt, eine Fachkraft würde gut 10.000 Wiener Schüler betreuen, da die Schulpsychologen nicht nur in Pflichtschulen, sondern auch in höheren Schulen eingesetzt würden.
Ähnlich wie die Schulsozialarbeiter sollen Psychologen Schüler und Lehrer unterstützen. Im Gegensatz zu den Sozialarbeitern sind Psychologen aber nicht permanent im Einsatz, sondern werden nur bei Bedarf von den Schulen angefordert. Ihre Aufgaben sind laut Anforderungsprofil der Stadt aber genauso vielfältig: Sie sollen bei Krisen intervenieren und wenn nötig auch Schülern bei Fragen nach weiteren Ausbildungswegen beraten. Sie sollen auch Lehrer psychologisch betreuen, an deren Aus- und Weiterbildung mitwirken und sich bei Gesprächen mit Eltern vermittelnd einbringen.
Um die Relationen zu sehen: In ganz Wien gibt es rund 235.000 Schüler (Schuljahr 2016/17). Tendenz steigend. Das bedeutet, der Bedarf an Unterstützungspersonal in Schulen wird nicht kleiner, sondern größer werden. Viele Lehrer, Direktoren und Eltern rufen daher regelmäßig nach mehr Schulsozialarbeitern, Schulpsychologen, aber auch Sprachlehrern (hier und hier). Aus dem Regierungsprogramm ist nicht herauszulesen, ob diese Hilferufe erhört werden. Da heißt es nur sehr vage: „Bedarfsgerechter Einsatz von Unterstützungspersonal an Schulen auf Basis einheitlicher standardisierter Indikatoren (Koordination durch die Bildungsdirektionen).“