Dass Susanne Wiesinger seit gestern keine Ombudsfrau mehr ist, hat sie aus den Medien erfahren. Ihr gegenüber hielt sich das Bildungsministerium bedeckt. Ein Jahr war die Lehrerin in Österreich unterwegs, um das Ausmaß an kulturellen und religiösen Konflikten zu erheben und bei Missständen und behördlichen Versäumnissen beratend zu unterstützen. Unabhängig und weisungsfrei sollte diese Anlaufstelle sein. Nach einem Jahr als Ombudsfrau im Bildungsministerium sagt sie ernüchtert: „In unseren Klassenzimmern spielt sich tagtäglich eine bildungspolitische Katastrophe ab. Kinder sind zu oft der Kollateralschaden einer blinden ideologischen Politik. Die Parteilinie ist oft wichtiger als wirkliche Hilfe für die Schüler.“
Zu oft gehe es den Bildungspolitikern bei den Problemen in unseren Klassenzimmern nicht um die Suche der bestmöglichen Lösung, sondern um die Frage, welche parteipolitische Position vertreten werden muss. Die fatalen Folgen dieser Ideologie beschreibt sie in ihrem neuen Buch „Machtkampf im Ministerium“: Zuwandererkinder der zweiten und dritten Generation sprechen oft nicht genug Deutsch für einen Schulabschluss, Frauen- und Minderheitenrechte werden aufgrund falsch verstandener Toleranz oder Parteilinien ignoriert. Zudem werden Eltern vom Staat zu schnell aus ihrer Verantwortung entlassen. Auch Antisemitismus seitens muslimischer Schüler wird ein immer größeres Problem. Die Fälle reichen von antisemitischen Parolen bis Eskalationen bei Besuchen des Konzentrationslagers Mauthausen. Konsequenzen bleiben aus, die Lehrer werden mit dem Problem allein gelassen.
Dass während ihrer Zeit als Ombudsfrau im Ministerium regelmäßig versucht wurde, ihre Arbeit parteipolitisch zu beeinflussen, wie Wiesinger es in ihrem neuen Buch beschreibt, verneint das Bildungsministerium in einer Aussendung am Samstag und spricht von einem „Bruch des Vertrauens“. Wiesinger hatte Minister Faßmann am Mittwoch persönlich über das Erscheinen des Buches informiert. Dass die ehemalige Bildungsministerin der Übergangsregierung Iris Rauskala nun behaupte, es habe während ihrer Amtszeit keinerlei Einflussnahme auf Wiesingers Tätigkeit gegeben, bezeichnete die Lehrerin als „nicht der Realität entsprechend“. „Es gab in dieser Zeit sehr viele Telefonate und Gespräche, in denen ich meinen Unmut über diese parteipolitische Einflussnahme zum Ausdruck gebracht habe.“ In welcher Form Susanne Wiesinger nun wieder in die Schulpraxis zurückkehren wird, ist noch unklar.
Zu tun gibt es genug. An Österreichs Schulen sprechen immer mehr Schüler immer seltener Deutsch. Kulturelle Konflikte nehmen zu. Die neue türkis-grüne Regierung verspricht in ihrem Regierungsprogramm mehr Personal und Unterstützung. Dabei heißt das eigentliche Problem: Parteipolitik.
In den vergangenen zehn Jahren hat sich der Anteil der Schüler mit nichtdeutscher Umgangssprache in öffentlichen Volksschulen, Mittelschulen und AHS deutlich erhöht. An neuen Mittelschulen stieg der Anteil der Schüler mit nichtdeutscher Umgangssprache um 39 Prozent, in der AHS-Unterstufe um 40 Prozent und in der AHS-Oberstufe um 59 Prozent.
Besonders dramatisch ist die Situation in Wiener Volksschulen: Hier sprechen bereits 59 Prozent aller Kinder im Alltag kein Deutsch mehr. Österreichweit sind es 31 Prozent der Schüler, die eine andere Sprache als Deutsch im Umgang verwenden.
Gleichzeitig nehmen an vielen Schulen kulturelle Konflikte und religiös motivierte Auseinandersetzungen unter Schülern und zwischen Lehrern und Schülern zu. Dass sich diese Situation an vielen Brennpunktschulen seit Jahren verschärft und der Einfluss des konservativen Islam in vielen Klassenzimmern wächst, hat die Lehrerin Susanne Wiesinger in ihrem ersten Buch „Kulturkampf im Klassenzimmer“ deutlich beschrieben. Heinz Faßmann, der bereits damals schon als Bildungsminister verantwortlich war, berief als Reaktion auf diesen Befund im Februar 2019 Susanne Wiesinger zur Leiterin der Ombudsstelle für Wertefragen und Kulturkonflikte ins Bildungsministerium.
In ihrer Zeit als Leiterin der Ombudsstelle gab es mit Susanne Wiesinger rund 160 Gesprächstermine mit hunderten Lehrern. Diese Gespräche bilden die Grundlage für den Bericht der Ombudsstelle und die dort enthaltenen Empfehlungen an die Politik. Unklar ist allerdings, wann und von wem dieser der Öffentlichkeit vorgestellt werden soll. Empfohlen werden darin unter anderem klarere Sanktionsmöglichkeiten für Lehrer gegenüber Schülern und Eltern, eine Entlastung der Lehrer von administrativen Aufgaben, eine stärkere kulturelle Durchmischung der Schülerschaft und verpflichtender Ethikunterricht für alle.
Einige der von Wiesinger im Bericht und im Buch beschriebenen Probleme könnten durch die neue türkis-grüne Regierung angepackt werden. So sollen Lehrer mehr Handhabe bei religiösen oder kulturellen Fragen und Herausforderungen im Schulalltag erhalten, die Eltern sollen stärker in die Pflicht genommen werden, bei den Deutschklassen sollen Lehrer mehr Gestaltungsspielraum bekommen, das Unterstützungspersonal soll aufgestockt werden, und Brennpunktschulen sollen zusätzliche Ressourcen erhalten. Ob diese im Regierungsprogramm festgehaltenen Pläne am Ende tatsächlich umgesetzt werden, wird sich zeigen. Schaut man sich den Anteil der Schüler in Schulen mit sozialer Belastung an, wie Brennpunktschulen offiziell definiert werden, dann wird deutlich, wie groß die Herausforderungen sind.
Der Index beruht auf vier Faktoren:
Klar ist: All diese Maßnahmen kosten Geld. Würde, wie im Regierungsprogramm angekündigt, zusätzliches Personal verpflichtet, ohne an der Beschäftigung der Lehrer etwas zu ändern, wäre das eine Milliardeninvestition. Dabei liegt Österreich bei den Bildungsausgaben pro Kopf schon jetzt deutlich über dem EU-Schnitt, und zwar in allen Schulstufen.
Ein weiteres Problem: In Österreich verbringen Lehrer relativ wenig Zeit mit Unterricht im Klassenzimmer. An Neuen Mittelschulen und an AHS-Unterstufen sind unsere Lehrer lediglich 34 Prozent ihrer Arbeitszeit mit Unterrichtsstunden beschäftigt. Der OECD-Durchschnitt liegt bei knapp 44 Prozent. Das von der Regierung angekündigte Unterstützungspersonal und der von allen Parteien geforderte Bürokratieabbau könnte diesem Ungleichgewicht entgegenwirken.
Doch selbst wenn noch mehr Geld ins Bildungssystem fließen würde, wäre das Problem der parteipolitischen Machtkämpfe nicht gelöst, warnt die Lehrerin und Ombudsfrau Susanne Wiesinger. „Man hätte dann nur wieder mehr Möglichkeiten, alte Probleme mit neuem Geld zuzudecken.“ Sie ist überzeugt: „Die Parteipolitik muss aus den Schulen verschwinden.“ Nur dann könnten Reformen auch wirklich etwas verändern.
Das vorgelegte Regierungsprogramm wird von den beiden Oppositionsparteien SPÖ und NEOS jedenfalls heftig kritisiert. Die SPÖ ist „schwer enttäuscht“, die NEOS sprechen von dringend notwendigen „Nachverhandlungen“. Bereits Ende des vergangenen Jahres starteten die Sozialdemokraten eine Initiative für einen Nationalen Bildungskonvent. Bildungspolitik dürfe nicht mehr länger eine Politik von Kompromissen zum Nachteil der Kinder sein. Es brauche eine „gemeinsame überparteiliche Kraftanstrengung“. Ob dieser Vorstoß der Opposition ernst gemeint ist, wird sich bei den ersten türkis-grünen Gesetzesvorschlägen im Bildungsbereich zeigen. Dann wird man sehen, ob eine Partei wirklich bereit ist, über ihren ideologischen Schatten zu springen.