Die Lehrerin und Buchautorin („Kulturkampf im Klassenzimmer“) wird ab Februar 2019 eine Ombudsstelle für Wertefragen und Kulturkonflikte im Bildungsministerium leiten. Als Ombudsfrau wird Wiesinger österreichweit eine unabhängige und weisungsfreie Anlaufstelle für Lehrer, Direktoren, Eltern und Schüler sein. Sie soll bei Missständen und behördlichen Versäumnissen beratend unterstützen. Gleichzeitig soll die Ombudsfrau das Ausmaß an kulturellen und religiösen Konflikten erheben. Bildungsminister Heinz Faßmann reagiert damit auf die von Susanne Wiesinger aufgedeckten Probleme mit dem konservativen Islam an vielen Wiener Schulen.
Herr Faßmann, Sie wollen genau wie Susanne Wiesinger die parteipolitischen Grenzen in der Bildungspolitik überschreiten. Das ist doch eine gute Voraussetzung für eine gemeinsame Zusammenarbeit. Haben Sie ihr schon einen Job im Ministerium angeboten?
Heinz Faßmann: Da haben Sie recht. Ich werde darüber nachdenken.
Aus dem im November geführten Interview für die Addendum-Zeitung.
Bereits im November hatten sich beide für die Schaffung einer solchen Beratungsstelle in ihrem bislang einzigen gemeinsamen Interview mit der Addendum-Zeitung ausgesprochen. Dass religiöse Aspekte in der Analyse von Schulkonflikten allzu oft ignoriert würden, kritisiert die langjährige sozialdemokratische Lehrergewerkschafterin Susanne Wiesinger seit langem. „Die Sozialdemokraten haben sich verrannt. Die Fundamentalopposition zur FPÖ und die Nähe zur islamischen Glaubensgemeinschaft schränken ihren Handlungsspielraum bei diesem Thema gewaltig ein. Sie müssen bei der Linie bleiben, dass die religiösen Konflikte an Schulen nur Einzelfälle sind und dass das Hauptproblem ein soziales ist.“
Die bislang von der Wiener Politik initiierten Aktionen sind das Ergebnis dieser, in ihren Augen, fehlerhaften Analyse. Mit einer direkten Hotline für Lehrer und einem „Runden Tisch“ wolle man den Anschein erwecken, dass Probleme ernsthaft angegangen werden. Konstruktiv und nachhaltig seien diese Aktionen aber nicht. Erstere funktioniere nicht, weil besorgte Lehrer am anderen Ende der Leitung oft mit jemandem sprechen, der meist nur verharmlose. Und am „Runden Tisch“ fokussiere man zu sehr auf das Thema Gewalt, ohne auch nur annähernd den Einfluss des konservativen Islam zu thematisieren. Am Ende würde es immer nur darum gehen, vom Bund mehr Geld zu fordern und den politischen Gegner zu kritisieren. „Die Ideologie der Verantwortlichen verhindert eine vernünftige Sachpolitik“, ist Susanne Wiesinger überzeugt. „Wir sollten endlich damit beginnen, neue Antworten auf die sich ausbreitenden Probleme in vielen Schulen zu finden. Viele Ideen werden bei uns noch immer mit Verweis auf parteipolitische Zwänge bereits im Vorfeld ausgeschlossen. Wieso darf man nicht einmal über Strafen für Eltern, die ihre Kinder lieber Koranverse in der Moschee auswendig lernen lassen, als mit ihnen Hausübungen zu machen, nachdenken?“, fragt die Lehrerin.
Als Ombudsfrau wolle sie nun ein Bindeglied zwischen den Schulpartnern und dem Ministerium sein, und über Parteigrenzen hinweg nach Lösungen suchen. Welche Lösungen das sein könnten, deuteten beide in einem gemeinsamen Interview mit der Addendum-Zeitung an.
Herr Minister Faßmann, mit ihrem Buch „Kulturkampf im Klassenzimmer“ hat Susanne Wiesinger eine kontroverse Debatte über den Einfluss des konservativen Islam an Schulen ausgelöst. Warum hat es erst eine mutige Lehrerin gebraucht, um die Politik auf dieses Thema aufmerksam zu machen?
Heinz Faßmann: Sie haben vollkommen recht, Frau Wiesinger ist eine mutige Lehrerin. Sie hat mit ihren Schilderungen sehr eindringlich auf die Probleme in Brennpunktschulen hingewiesen. Und ich stimme ihr auch zu, dass wir unsere Integrationsbemühungen intensivieren müssen, gerade im Bereich der frühkindlichen Erziehung und auch im Pflichtschulbereich. Und dass der politische Islam in unseren Schulen keinen Platz hat, darüber besteht kein Zweifel. Doch wie groß sein Einfluss wirklich ist, darüber wissen wir noch zu wenig. Daher habe ich eine umfassende Studie in Auftrag gegeben, um herauszufinden, welche religiös-kulturell bedingten Probleme und sonstigen Abwertungen es im gesamten Schulsystem gibt.
Was haben Sie durch dieses Buch über den Alltag an Brennpunktschulen erfahren, was Sie bis dato noch nicht wussten?
Heinz Faßmann: Meine Frau ist auch Lehrerin, daher ist mir diese Thematik nicht vollkommen neu. Es werden in dem Buch sehr dramatische Einzelevidenzen geschildert, die den Eindruck, den ich bisher von Schulen mit einem hohen Migrationsanteil hatte, um eine weitere Perspektive ergänzen. Was wir auch durch diesen Erfahrungsbericht merken, ist, wie stark beispielsweise der Einfluss des Heimatlands auf die hier lebende türkische Diaspora ist. Diese politische, gesellschaftliche und kulturelle Zerrissenheit spüren die Lehrer natürlich auch im Klassenzimmer.
Susanne Wiesinger: Und genau mit dieser Situation wurden wir viel zu lange allein gelassen. Das mit diesen Integrationsproblemen zusammenhängende Bildungsproblem kann die Schule nicht allein lösen. Wir brauchen klare Richtlinien, inwieweit eine Religion Einfluss auf die Entwicklung von Kindern nehmen darf. Die Jugendlichen werden dadurch an Integration gehindert.
Herr Faßmann, in Frankreich hat der Bildungsminister die Lehrer aufgefordert, alle Vorfälle mit religiösem Hintergrund auf einer eigens eingerichteten Internetplattform seines Ministeriums zu melden. Er spricht von einem „Ende der Naivität“. Könnten Sie sich so etwas auch für Österreich vorstellen?
Heinz Faßmann: Eine zentrale Anlaufstelle für Lehrerinnen und Lehrer, die über Probleme an Schulen sprechen wollen, halte ich für sinnvoll. Ich denke da aber weniger an eine Plattform im Internet, sondern eher an eine Art Ombudsstelle im Ministerium. Lehrer brauchen einen Ansprechpartner mit Erfahrung, der ihnen zuhört und sie mit konstruktiven Lösungsvorschlägen unterstützen kann.
Susanne Wiesinger: Ich würde so eine Plattform wie in Frankreich begrüßen. Jede Initiative, die dazu beiträgt, auf die religiösen Konflikte und Streitigkeiten im Klassenzimmer aufmerksam zu machen, ist hilfreich. Ich wünsche mir in Österreich auch ein Ende der Naivität und des Schweigens. Umso besser, wenn zusätzlich die Möglichkeit besteht, sich mit kompetenten Experten auszutauschen. Das Wichtigste ist, dass wir endlich damit aufhören, religiös motivierte Vorfälle zu verharmlosen.
Frau Wiesinger, welche Vorfälle hätten Sie bei so einer Anlaufstelle in den vergangenen Wochen gemeldet?
Susanne Wiesinger: Schockierend war, als eine Schülerin sagte, ihr Vater verbiete ihr, österreichische Zeitungen und Bücher zu lesen. Das muss man sich mal vorstellen. Melden würde ich alles, was die Kinder daran hindert, sich in diese Gesellschaft zu integrieren. Es kann nicht mehr hingenommen werden, dass viele muslimische Jugendliche an ihre Verwandten, und dies schon relativ früh, verheiratet werden. Arrangierte Ehen widersprechen den Gesetzen in Österreich. Auch wenn wir das nicht wahrhaben wollen – es findet statt.
Herr Faßmann, was denkt sich der Bildungsminister, wenn er hört, dass Schüler keine österreichischen Zeitungen lesen dürfen?
Heinz Faßmann: Ich kenne die genauen Beweggründe für diese Entscheidung nicht, daher fällt es mir schwer, diesen Fall zu beurteilen. Es zeigt aber, wie wichtig die Eltern im Integrations- und Bildungsprozess sind. Wir haben ein sehr gutes und kostenloses schulisches Bildungsangebot. Die Frage ist, wie es uns gelingt, dass alle Kinder in Österreich von unseren Angeboten bestmöglich profitieren. Dafür gibt es kein Patentrezept. Es braucht eine Kombination aus gezielten Bildungsanreizen und eindeutigen Integrationsverpflichtungen. Und wir müssen natürlich alle Lehrer bei ihren Bemühungen unterstützen. Sie dürfen nicht das Gefühl haben, dass sie an irgendwelchen bürokratischen Verwaltungsstrukturen scheitern. Denn klar ist für mich auch: Die vielschichtigen Probleme im Klassenzimmer lassen sich nicht per Erlass aus dem Bildungsministerium am Minoritenplatz in Wien lösen. Wir von der Politik können lediglich die gesetzlichen Rahmenbedingungen so gestalten, dass Lehrer gestärkt werden.
Frau Wiesinger, unabhängig davon, welches Problem im Klassenzimmer auftaucht, werden von vielen sozialdemokratischen Direktoren und Bildungspolitikern umgehend mehr finanzielle Ressourcen gefordert. Lässt sich diese religiös aufgeladene Situation wirklich mit Geld in den Griff bekommen?
Susanne Wiesinger: Nein. Natürlich sind Ressourcen wichtig, vor allem auch in den Volksschulen. Die vorhandenen Mittel müssen besser und bedarfsgerechter verteilt werden. Sozialarbeiter und Psychologen an Schulen alleine werden die Probleme nicht lösen. Wir brauchen gerade im Ballungsraum wieder funktionierende Jugendämter.
Herr Faßmann, die Forderung nach mehr Geld richtet sich fast immer an den Bund. Ist denn wirklich zu wenig Geld im System, oder wird es nur schlecht eingesetzt?
Heinz Faßmann: Es ist sehr viel Geld im System, das sehen wir auch im OECD-Vergleich. Wir haben in Österreich genügend Lehrer. Ich befürchte, es sind sind nicht alle immer dort eingesetzt, wo sie wirklich gebraucht werden. Ich stimme Frau Wiesinger zu, die vorhandenen finanziellen Ressourcen müssen besser gesteuert werden. Das wird nicht konfliktfrei ablaufen. Natürlich werden einige dann mehr bekommen als andere, aber wir brauchen im Bildungsbereich mehr strategische Entscheidungen. Doch um das zu tun, muss ich erst einmal wissen, wofür das Geld ausgegeben wird, ob ein Lehrer in der Klasse steht oder ob er in der Verwaltung sitzt. Wir brauchen ein besseres Controlling. Besonders für die Gelder, die der Bund den Ländern zur Verfügung stellt.
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Herr Faßmann, als Vorbild, um die Probleme an Brennpunktschulen in den Griff zu bekommen, nennen Sie sehr oft London. Was kann Wien konkret von London lernen?
Heinz Faßmann: London hatte vor zwanzig Jahren mit ähnlich gelagerten Problemen zu kämpfen. Dort haben es viele Schulen geschafft, sich von einer Brennpunktschule zu einer Vorzeigeschule zu entwickeln. Das können wir auch in Wien schaffen. Gelingen wird uns das aber nur, wenn Bund und Land an einem Strang ziehen. Jeder Standort braucht einen maßgeschneiderten Plan. Wir müssen Leuchtturmprojekte identifizieren, und die Schulen müssen voneinander lernen. Was hat bei euch warum funktioniert? Kann das auch bei uns gehen? Wir müssen die Strukturen an den jeweiligen Schulen und deren Schwachstellen genau anschauen, sonst werden wir weiterhin nur die Symptome lindern, aber nie die ursächlichen Probleme angehen.
Susanne Wiesinger: Dazu braucht es aber auch einen Kulturwechsel. An Österreichs Schulen müsste eine andere, positivere Einstellung zu Leistung herrschen. Die Kinder sollten selbstverständlich gefördert werden. Gleichzeitig muss aber auch gefordert werden. Und eine Anmerkung zur Schülerschaft: Wir dürfen nicht vergessen, dass die Mehrheit der Kinder an Londoner Schulen pakistanische und bangladeschische Wurzeln hat, bei uns in Wien haben viele einen türkischen Migrationshintergrund. Die beiden Situationen sind daher nicht wirklich vergleichbar.
Herr Faßmann, die Neue Mittelschule wird von vielen nur noch als Restschule für Ausländer wahrgenommen. Diese Schulform wird nun das „Neue“ im Namen verlieren und ein neues Beurteilungssystem bekommen. Glauben Sie, dadurch würden österreichische Eltern ihre Kinder eher in diese Schule geben?
Heinz Faßmann: Um auf Ihre zynisch-rhetorische Frage zu antworten: Natürlich reicht es nicht, das Adjektiv „neu“ zu streichen. Wir dürfen aber auch nicht den Fehler machen und alle Neuen Mittelschulen über einen Kamm scheren. Es gibt sehr große Unterschiede zwischen Wien und Vorarlberg. Ich wehre mich gegen pauschale Panikmache. Wir haben ein gutes und sehr durchlässiges Schulsystem. Die Mittelschulen gehören für mich dazu. Dass wir ernsthafte Probleme haben, möchte ich nicht leugnen.