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Nachts auf Streife in Favoriten
24. März 2018 Sicherheit Lesezeit 9 min
Für die TV-Reportage „Im Kontext“ war Elisabeth Pfneisl mit zwei Polizisten im Nachtdienst unterwegs. Auf Streife hat sie erfahren, warum ein Selbstmord zum gefährlichsten Einsatz für Bezirksinspektor Mario B. wurde, ist einem Raser begegnet, für den die überhöhte Geschwindigkeit noch das geringste Problem sein wird, und hat drei Festgenommene zur Zelle begleitet.
Dieser Artikel gehört zum Projekt Sicherheit und ist Teil 6 einer 11-teiligen Recherche.
Foto: Matt Observe | Addendum

Arbeiterbezirk, Großstadt in der Großstadt, schmucklose Wohngegend. Es kommt nicht von ungefähr, dass es immer wieder heißt, Favoriten sei ein Problembezirk. Das durchschnittliche Jahreseinkommen pro Kopf ist das zweitniedrigste in Wien, der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund ist mit 46,6 Prozent hoch, der Anteil der Arbeitslosen ebenso.

Und wie überall, wo viele Menschen, vor allem aus sozial schwachen Bevölkerungsgruppen, zusammenleben, gibt es auch in Favoriten viele Konflikte. Gewaltdelikte werden hier um 72 Prozent häufiger angezeigt als im Österreichschnitt.

Was bedeuten diese Zahlen für die Exekutive? Wie gefährlich ist der Bezirk wirklich?

Fotos: Matt Observe

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Mario B. macht sich bereit für den Nachtdienst. 2016 wurde er im Wiener Rathaus als bester Polizist der Stadt geehrt, die Auszeichnung wird seit zehn Jahren von einer Tageszeitung vergeben. Seine Kollegen haben Mario aus diesem Anlass „Bezirksinspektor der Herzen“ auf seine kugelsichere Weste schreiben lassen. Obwohl Favoriten eines der härteren Pflaster Wiens ist, mag der 30-Jährige seinen Job.

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Daniel S., oben rechts im Bild, ist seit mehr als sechs Jahren im Außendienst der Exekutive. Sein Urgroßvater war schon Polizist, sein Onkel ist es noch. „Ich habe das irgendwie in den Genen“, sagt er. Daniel musste als ehemaliger Zivildiener allerdings erst eine Gesetzesänderung abwarten. Bis 2010 war Zivildienern der Dienst an der Waffe nämlich nicht erlaubt. Als das Gesetz novelliert wurde, hat Daniel sich sofort für die Aufnahmeprüfung an der Polizeischule angemeldet.

In den Nachtdienst kommt er direkt aus dem Theater. Mit seinen Kindern hat er sich ein Musical angeschaut, im Streifenwagen singt er noch fröhlich vor sich hin.

Aus der Musical-Traumwelt zurück auf den Boden der Realität: Das geht in Favoriten innerhalb von einer Sekunde. Funkspruch. Einsatz. Blaulicht. Es geht los.

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Favoriten ist der bevölkerungsreichste Bezirk Wiens. Würde der „Zehnte“, wie ihn die Einwohner auch nennen, nicht zu Wien gehören, wäre Favoriten Österreichs viertgrößte Stadt. 198.083 Menschen leben hier, 46,6 Prozent der Bezirksbewohner haben Migrationshintergrund. Favoriten gilt seit jeher als einer der sozial schwächeren Bezirke. Gewaltkriminalität ist hier besonders präsent. Prunkbauten wie in der Innenstadt und hippe Restaurants sucht man vergeblich. Favoriten hat aber auch seine guten Seiten. Viele Grünflächen zum Beispiel. Grätzeln am Stadtrand, die ländlich anmuten und in denen die Nachbarn einander grüßen – nicht selbstverständlich in einer Großstadt. Und versteckte Kleinode wie den Böhmischen Prater, der aus der Zeit gefallen zu sein scheint.

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Mario und Daniel sind noch nicht lange unterwegs, da bemerken sie einen Raser, der unmittelbar vor ihnen mit 80 km/h unterwegs ist. Ein Blick in den Rückspiegel hätte sich für den Mann gelohnt. Die Polizisten schalten das Blaulicht ein, halten ihn an und stellen gleich fest, dass die überhöhte Geschwindigkeit sein geringstes Problem ist.

Wie der Autofahrer freimütig zugibt, hat er nämlich keinen Führerschein. Genau genommen schon seit 2001 nicht mehr. Und die damalige Führerscheinabnahme sei nicht einmal die erste gewesen. Mario B. ist fassungslos. „Der Führerschein ist seit 2001 weg? Seit 2001?“, fragt er. „Ja“, sagt der Mann trocken.

Aber damit nicht genug. Er sei außerdem im Substitutionsprogramm und nehme das Drogenersatzmedikament Substitol, erzählt der Autofahrer weiter. Eigentlich hätte er nur schnell bei der Bank um die Ecke Geld abheben wollen und sei deshalb mit dem Auto unterwegs gewesen.

„Und dann fahren Sie so auffällig, wenn Sie keinen Führerschein haben? Wir hätten Sie ja nie angehalten, wären Sie mit 50 unterwegs gewesen!“ sagt Mario B. immer noch fassungslos. Der nächtliche Ausflug wird dem Autofahrer ohne Führerschein jedenfalls eine satte Geldstrafe bescheren.

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Nächster Einsatz: Ein Nachbarschaftsstreit. Wieder Blaulicht. Mario und Daniel wissen nicht, was sie erwarten wird. Ob Menschen nur verbal aufeinander losgehen oder vielleicht doch mit Messern. Wie sich herausstellt, findet eine alte Dame die Familie über ihrer Wohnung zu laut. „Die haben Ball gespielt! In der Wohnung! Sogar die Erwachsenen!“, empört sich die alte Dame.

„Das sind Kinder! Die müssen spielen, die können nicht den ganzen Tag am Handy sein wie Depperte!“, schimpft die Nachbarin aus der Wohnung darüber.

Daniel, selbst Familienvater, versucht zu vermitteln. Die Nachbarinnen sollen doch versuchen, eine Einigung zu finden. Keine der beiden würde ausziehen, nur weil die Kinder zu laut seien. Die Beamten nehmen die Daten der Damen auf und verabschieden sich. Die Damen bleiben unzufrieden zurück. Bis zur nächsten Auseinandersetzung – die wohl nicht lange auf sich warten lassen wird.

„Solche Amtshandlungen haben wir oft. Wir haben in Favoriten, speziell bei uns, ziemlich viele große Gemeindebauten mit vielen Parteien, und da kommt es dann meistens zu Streitigkeiten aufgrund von Lärm. In erster Linie wird dann immer die Polizei gerufen, man erhofft sich Hilfe, und wir probieren dann halt, mit den Leuten zu reden und das irgendwie für sie erträglich zu machen“, erzählt Mario.

„Wirklich machen können wir nichts“, räumt Daniel ein. „Aber ich versuche immer das Beste für alle Beteiligten herauszuholen, mit dem geringsten Übel für beide Parteien. Das funktioniert halt nicht immer.“

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„Die Palette der Straftaten ist sehr vielfältig in Favoriten. Es fängt bei einem ,normalen‘ Diebstahl an und geht von einem Kfz-Diebstahl über Körperverletzungen bis hin zu Raubüberfällen“, erzählt Mario.

Man geht mit einem gesunden Respekt in den Streifendienst, erzählen die beiden. Angst habe man nicht. Trotzdem gibt es Einsätze, die schwer zu verarbeiten sind. „Bei mir sind das Einsätze, bei denen Kinder in irgendeiner massiv negativen Form involviert sind“, erzählt Daniel. „Wenn unter Erwachsenen Probleme entstehen, ist die Sache für sie greifbar, die sind erwachsen und vernünftig, aber Kinder sind emotional voll drin und können überhaupt nicht einordnen, was passiert. Und sie sind meistens in einer Form betroffen, dass mich das halt sehr mitnimmt.“

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Auf Fußstreife unterhalten sich die beiden Beamten über einen Vorfall, der sich früher am Tag ereignet hat. Eine Kollegin ist bei einem Einsatz von einem Suchtgiftkranken zweimal gebissen worden. Selbst die Spezialeinheit WEGA hatte ausrücken und Schreckschüsse abgeben müssen. Nun müsse die Kollegin zittern, ob sie sich wohl durch den Biss mit einer Krankheit, vielleicht sogar HIV, infiziert hat. Mario fühlt sich an seinen härtesten Einsatz erinnert.

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Ein junger Wiener hatte vor zwei Jahren in Selbstmordabsicht Dinitrophenol geschluckt, erzählt Mario, hier rechts im Bild, als er und sein Kollege auf der Wache Pause machen. Diese Chemikalie wird zur Munitionsherstellung verwendet und kann schon ab einem Gramm für den Menschen tödlich sein. Obwohl das in Österreich verboten ist, bestellen viele Bodybuilder Dinitrophenol illegal im Internet. In geringen Mengen eingenommen, soll die Chemikalie den Fettabbau beschleunigen.

Der 29-jährige Bodybuilder hatte davon eine große Menge geschluckt und rief danach die Rettung, die wiederum in Begleitung der Polizei kam. Mario wollte dem Mann helfen, der wehrte sich zunächst und übergab sich. Auf Marios Hand ergoss sich eine gelbe Flüssigkeit, kurz darauf schwoll die Hand stark an.

In weiterer Folge wurde vermutet, dass die Substanz, die der Mann geschluckt hatte, explosiv sein könnte. So wurde das gesamte Wohnhaus evakuiert. Während sich dieser Verdacht als unbegründet herausstellte, wurde der 29-Jährige ins Krankenhaus geflogen, wo er kurz darauf starb.

„Das Problem an der Geschichte war, dass ich dieses Erbrochene am Finger gehabt habe und mir niemand wirklich sagen konnte, ob das jetzt für mich giftig ist. Meine Finger sind angeschwollen und weder die Rettung noch sonst jemand hatte Erfahrung mit dieser Substanz. Das war dann auch für mich eine Zeit lang eine ungewisse Situation, ich wusste nicht, was passiert mir da jetzt. Und dann entsteht so etwas aus einer Situation, in der man einem Menschen helfen will, weil’s auch der Beruf erfordert, und im Endeffekt ist man dann selber bedient.“

Es hat zwei Wochen gedauert, bis Entwarnung gegeben werden konnte, Mario würde den Vorfall unbeschadet überstehen. Trotz der großen Ungewissheit hat Mario nie daran gedacht, sich einen weniger riskanten Job zu suchen. „Die Frage, ob ich etwas anderes machen soll, habe ich mir persönlich noch nie gestellt. Ich mag das gerne, diese Abwechslung, dieses Ungewisse, vielleicht hin und wieder mal dieses Adrenalin, und dafür muss man halt gewisse Sachen oder Gefahren in Kauf nehmen.“

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Nach einer kurzen Pause in der Polizeiinspektion sind die Beamten schon wieder unterwegs. In einem kleinen Park am Reumannplatz beobachten die beiden eine verdächtige Übergabe hinter ein paar Büschen. Zwei Männer scheinen etwas auszutauschen.

Möglicherweise ein Drogendelikt, vermuten Mario und Daniel. Einer der beiden Männer entfernt sich rasch. Der andere wird angehalten. Er gibt sich zunächst wenig kooperativ. Er spreche kein Deutsch. Ausweis habe er auch keinen dabei. Letztlich darf er aber doch weitergehen.

„Der Park hier ist bekannt dafür, dass hin und wieder, wie in allen Parks in Wien, strafrechtliche Delikte gesetzt werden im Hinblick auf Suchtgifthandel. Deswegen kam es hier zu einer routinemäßigen Personenkontrolle, und die war in allen Belangen negativ. Keine Beanstandungen.“

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Ohne Pause geht es weiter. In einer Notunterkunft für Obdachlose ist es zu einer Schlägerei gekommen. Drei Männer haben einen ihrer Mitbewohner angeblich niedergeschlagen und versucht, ihm das Handy zu rauben. Dabei haben sie ihn laut Angaben von Zeugen auf dem Boden fixiert und ihm Mund und Nase zugehalten.

Als Mario und Daniel am Einsatzort eintreffen, sind bereits vier Funkstreifen vor Ort. Die Situation ist zunächst unübersichtlich. Einer der mutmaßlichen Täter versucht, sich selbst als Opfer auszugeben. Ihm habe man das Handy stehlen wollen, nicht umgekehrt, wiederholt er immer wieder aufgeregt.

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Es dauert nicht lang, bis der aufgeregte Mann gemeinsam mit den beiden anderen mutmaßlichen Tätern ins nahe gelegene Polizeikommissariat abtransportiert wird. „Frosch kommt!“, ruft Mario bei Eintreffen des Arrestantenwagens seinen Kollegen zu. „Frosch“ heißt das Fahrzeug, weil die Arrestantenwagen, mit denen Gefangene transportiert wurden, früher grün lackiert waren.

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Nach Ankunft werden die Gefangenen einzeln aus dem Arrestantenwagen geholt und ins Polizeikommissariat gebracht. Dort erwarten sie „erkennungsdienstliche Maßnahmen“, sie werden also fotografiert, die Fingerabdrücke werden genommen, die Daten werden überprüft. Die Polizei darf das alles dann durchführen, wenn jemand verdächtigt wird, eine gerichtlich strafbare Handlung begangen zu haben. Die Festgenommenen werden über ihre Rechte informiert, dürfen zwei Anrufe machen und werden dann in die Arrestzelle geführt.

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Während zwei der Beschuldigten bereits abgeführt worden sind, wartet der dritte im Inneren des Arrestantenwagens. „Sobald er dran ist, wird er – wie auch die anderen Festgenommenen –  einvernommen, das Opfer wird einvernommen, Zeugen werden einvernommen und in weiterer Folge, wenn diese ganzen Ermittlungsschritte abgeschlossen sind, wird mit dem Staatsanwalt telefoniert, und der entscheidet dann, ob die Beschuldigten auf freiem Fuß angezeigt werden oder ob sie in Untersuchungshaft gehen“, erklärt Mario.

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Während die Polizisten unterwegs sind, bekommen sie durch den Polizeifunk mit, womit ihre Kollegen in den anderen Streifenwagen beschäftigt sind. Auf der Laxenburger Straße blenden Jugendliche die entgegenkommenden Autofahrer mit Laserpointern. In einem Wohnhaus ist es zu einem Konflikt zwischen einem Paar gekommen. Häusliche Gewalt, auch damit sind Daniel und Mario häufig konfrontiert. In der kalten Jahreszeit ist es etwas ruhiger. Sobald es draußen warm ist, sind die Leute aber wieder mehr unterwegs, trinken mehr und machen der Polizei wieder mehr Arbeit.

Daniel: „Es gab heute immer wieder Einsätze, immer wieder Momente, wo man hellhörig wurde, was da am Funk durchgesagt wurde, da war zum Beispiel irgendwas mit drei Personen und einer Schusswaffe. Oft hört man auch nur Fragmente. Trotzdem ist dann kurz Aufruhr, das legt sich aber wieder.“

„Für uns ist das alles nicht außergewöhnlich gewesen. Ein Außenstehender, der kein Polizist ist und nicht viel damit zu tun hat, der wird sich wahrscheinlich denken: ,Puh, ein Wahnsinn wie viel da eigentlich los ist!‘ Für uns ist das Routine. Ganz normal.“

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Nach dem Außendienst gehen die Polizisten nicht einfach nach Hause wie die Kollegen aus den Fernsehkrimis. Dann müssen die Berichte geschrieben werden, über all die Einsätze der vergangenen Nacht. Bezirksinspektor Mario hat noch Dienstpläne zu machen.

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Um 7 Uhr morgens ist der Dienst vorbei. Nach zwölf Stunden. Mario hat es nicht weit. Er wohnt in Favoriten, schon sein ganzes Leben lang, und ist damit sehr zufrieden. Und das, obwohl er von Berufs wegen mit den eher dunklen Seiten des Bezirks zu tun hat. „Ich kenne jede Straße, jede Gasse, und ich habe zu allem hier einen Bezug, also von daher fühle ich mich wohl. Ich habe keine Angst in Favoriten.“ 

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