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Grundeinkommen – eine Alternative zum Sozialstaat?
30. November 2017 Sozialstaat Lesezeit 5 min
Wir stehen am Beginn einer Revolution, der digitalen Revolution. Roboter und Maschinen werden in den nächsten Jahren immer mehr Jobs übernehmen. Dem Staat entgehen Sozialabgaben und Steuern. Gleichzeitig werden immer mehr Menschen auf staatliche Transferleistungen angewiesen sein. Der Sozialstaat gerät dadurch zunehmend unter Druck. Ist ein bedingungsloses Grundeinkommen die Lösung?
Dieser Artikel gehört zum Projekt Sozialstaat und ist Teil 6 einer 15-teiligen Recherche.
Bild: Dennis Meyer | Addendum

Arbeit ist die Grundlage unseres Sozialstaats. Wer arbeitet, zahlt Abgaben und Steuern und finanziert dadurch zu einem großen Teil die soziale Sicherung. Das Geld wird dringend benötigt. Seit Jahren steigen die Sozialausgaben. Im Jahr 2015 lagen sie bei 101 Milliarden Euro. Mit dem digitalen Wandel könnten diese Finanzierungsquellen in den nächsten Jahren allerdings zunehmend versiegen.

Pessimisten rechnen damit, dass jeder zweite Job wegbrechen wird. Optimisten gehen davon aus, dass mittelfristig nur jeder zehnte Job wegfällt. Selbst im günstigsten Fall wären die finanziellen und gesellschaftlichen Folgen enorm . Digitalisierung und Automatisierung verändern den Arbeitsmarkt immer schneller und umfassender. Bei vielen Tätigkeiten sind Maschinen billiger, effektiver und fehlerfreier als der Mensch und sorgen so für gewaltige Produktivitätsfortschritte. Dieser Wandel betrifft schon längst nicht mehr nur Geringqualifizierte aus Industrie, Logistik und Handwerk, sondern in immer stärkerem Ausmaß auch Akademiker, Steuerberater oder Banker.

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Wie überlebt der Sozialstaat die Digitalisierung?

Natürlich gingen auch im 19. und 20. Jahrhundert Millionen an Arbeitsplätzen durch die Industrialisierung und die darauffolgenden Automatisierungswellen verloren. Und es wurden durch Innovation und Erfindergeist wieder neue Jobs geschaffen. Dennoch: Die Gefahr, dass viele einfache Arbeiter und Angestellte zu den Verlierern dieser Entwicklung gehören werden, ist groß. Denn nicht alle werden dem Arbeitsmarkt durch Umschulung und Weiterbildung erhalten bleiben. Für Geringqualifizierte wird die Arbeitslosigkeit wohl eher die Regel als die Ausnahme sein. Denn sie haben schon jetzt Probleme. Jeder vierte Pflichtschulabgänger ist heute ohne Job.

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Johannes Kopf
AMS-Vorstand
Der Jurist ist seit 2006 Vorstand des Arbeitsmarktservice. In seiner Amtszeit stieg die Arbeitslosigkeit über Jahre hinweg massiv an. Seit einem Jahr erleben wir eine Trendwende am österreichischen Arbeitsmarkt. Der AMS-Chef ist überzeugt: Automatisierung und Digitalisierung werden in den kommenden Jahren viele Jobs vernichten. Das bedingungslose Grundeinkommen hält er für eine Utopie.

Doch an eine echte Reform, an eine nachhaltige Veränderung des Sozialstaats wagt sich niemand heran. Zu groß sind offenbar die politischen Risiken, zu komplex die inhaltlichen Herausforderungen. Kritiker warnen: Wenn der Sozialstaat in 20 Jahren noch funktionieren soll, muss man ihn auf die Höhe der Zeit bringen. Doch wie soll das geschehen?

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Grundeinkommen: Sozialromantik oder Zukunftsmodell?

Eine mögliche Antwort auf den Wegfall von immer mehr Arbeitsplätzen könnte das bedingungslose Grundeinkommen sein – kurz BGE. Das Konzept klingt verlockend: Jeder Bürger, egal ob arm oder reich, ob berufstätig oder nicht, ob Kind oder Pensionist, erhält Geld vom Staat, ohne Gegenleistung. Diese Idee wird von Top-Managern wie Tesla-Chef Elon Musk, Facebook-Gründer Mark Zuckerberg und Siemens-Vorstandschef Joe Kaeser befürwortet.

Freiheit oder Überforderung?

Befürworter sehen im Grundeinkommen die Antwort auf die Folgen der Digitalisierung und Automatisierung. Es soll die befürchtete Massenarbeitslosigkeit abfedern, das Armutsrisiko senken und Menschen befähigen, endlich so zu arbeiten und zu leben, wie sie es schon immer wollten. Genau darin sehen Kritiker das Problem. Sie warnen vor einer Überforderung der öffentlichen Kassen und einer faulen Bevölkerung, die es sich dann auf Kosten einiger weniger Leistungsträger bequem macht.

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Das Besondere an der Debatte über das Grundeinkommen: Es gibt Befürworter und Gegner in allen politischen Lagern. Manche Linke kritisieren es als rein liberales Konzept, um Absatzmärkte zu erhalten. Einige Liberale wiederum sagen, dass es den Menschen von der Wiege bis zur Bahre in Staatsabhängigkeit hält. Und manche Konservative fürchten, dass mit dem Grundeinkommen die Leistungs- und Verantwortungsbereitschaft drastisch abnehmen wird.

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Würden Sie arbeiten, wenn Sie nicht mehr müssten?

Wie hoch das Grundeinkommen sein soll und welche Sozialleistungen es ersetzen könnte, darüber gibt es sehr unterschiedliche Ansichten. Auch darüber, ob ein Grundeinkommen faul macht und welche Folgen es für die Gesellschaft hätte, wird intensiv diskutiert. Nur wissen kann es keiner so genau, denn es gibt kaum belastbare Daten. Einige kleine Feldversuche wurden in Kanada und Namibia durchgeführt. In der Schweiz gab es eine Volksabstimmung, in den Niederlanden und in Finnland laufen derzeit kleinere Experimente. Finnland ist weltweit der erste Staat, der das Grundeinkommen auf nationaler Ebene testet:

2.000 zufällig ausgewählte Arbeitslose erhalten monatlich 560 Euro, zwei Jahre lang, ohne Auflagen. Oberstes Ziel: den Sozialstaat einfacher, schlanker und effizienter machen – und vor allem Job-Anreize für Arbeitslose schaffen. Das größte Defizit: Nur Arbeitslose nehmen an dem Test teil. Das heißt, die Frage, ob ein Grundeinkommen faul macht und Menschen aufhören würden zu arbeiten, wird auf diese Weise nicht zu beantworten sein.

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Wäre ein Grundeinkommen finanzierbar?

Noch finanziert Arbeit einen guten Teil des Sozialstaats. Was aber, wenn es immer weniger sozialversicherungspflichtige Jobs gibt? Dann brauchen wir ein Grundeinkommen und ein neues Steuersystem, sagt der Ökonom Thomas Straubhaar von der Universität Hamburg. Er ist überzeugt: Nur das Grundeinkommen kann den Sozialstaat retten. Denn Alterung, Wertewandel und Digitalisierung setzen dem Sozialstaat zu. Wollen wir das System retten, müssen wir es umbauen – und zwar radikal.

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Thomas Straubhaar
Ökonom
Der Schweizer Ökonom ist überzeugter Neoliberaler. Von 2005 bis 2014 war er Direktor des Hamburger Weltwirtschaftsinstituts. Er glaubt, dass die Herausforderungen durch die Digitalisierung nur durch radikales Umdenken bewältigt werden können. Ein bedingungsloses Grundeinkommen sei leicht zu finanzieren und würde zu einer gerechteren Gesellschaft führen.

Thomas Straubhaar hat für Deutschland detailliert durchgerechnet, ob und wie ein Grundeinkommen zu finanzieren wäre. Er hält die Finanzierung für relativ einfach. Anstatt ausschließlich den Faktor Arbeit zu besteuern, müsse die komplette Wertschöpfung besteuert werden – mit einem einheitlichen Steuersatz.

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Was würde nach dem Straubhaar-Modell das bedingungslose Grundeinkommen für Sie finanziell konkret bedeuten? Nutzen Sie den Grundeinkommensrechner, um es herauszufinden.

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Österreich: 39,4 Prozent Wertschöpfungsabgabe

Auch für Österreich ergibt sich laut Straubhaar eine realistische Finanzierungsmöglichkeit: Bekommen alle 8,7 Millionen Einwohner jeden Monat tausend Euro Grundeinkommen, ergeben sich Kosten in Höhe von 104,4 Milliarden Euro. Der Sozialstaat (inklusive Gesundheitswesen) kostet uns jährlich 105 Milliarden Euro, davon geben wir 76 Milliarden Euro für die sozialen Sicherungssysteme aus. Würden wir die Wertschöpfung im Land mit einheitlich 39,4 Prozent besteuern, wäre das Grundeinkommen gegenfinanziert. (Die detaillierte Berechnung für ein österreichisches Grundeinkommen finden Sie hier ).

Noch ist das alles pure Theorie. Niemand weiß, wie sich ein Grundeinkommen langfristig auf die Arbeitsmoral der Gesellschaft auswirken würde, ob es wirklich zu einer Produktivitätssteigerung führen würde oder aber zu einem Leistungsverfall. Und ob es wirklich eine gute Alternative zum Sozialstaat wäre. Die Einführung eines Grundeinkommens würde einen radikalen Systemwechsel bedeuten, mit enormen rechtlichen, gesellschaftlichen und ökonomischen Konsequenzen. Und an solch einem gesamtgesellschaftlichen Sozialexperiment ist in Österreich momentan niemand interessiert. 

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