Es war ein kurzer öffentlicher Aufreger, als das Profil 2013 das Gehalt von Margit Spindelegger publizierte: 11.681 Euro als Bedienstete beim Rechnungshof und Gehaltsausgleich aufgrund ihrer Entsendung als EU-Beamtin. Zum Familieneinkommen kam noch das Gehalt ihres Ehemanns Michael Spindelegger – damals Vizekanzler der Republik Österreich – in Höhe von 17.952 Euro. Insgesamt also 29.633 Euro. Monatlich.
Trotzdem hatte Familie Spindelegger Anspruch auf Familienbeihilfe für beide Kinder in Höhe von rund 350 Euro im Monat. Genauso wie eine Familie, in der beide Eltern aufgrund der Kinderbetreuungsverpflichtungen nur Teilzeit arbeiten können und daher Mindestsicherung beziehen. Familieneinkommen: rund 1.850 Euro (inklusive Familienleistungen). Ist das Gerechtigkeit im Sinne des Gesetzgebers?
Seit jeher und angesichts der zunehmenden Sorgen über die Finanzierbarkeit des Sozialsystems stellt sich also die Frage: Wie treffsicher sind Sozialleistungen in Österreich? Wo wären Kürzungen sinnvoll – und wo nicht?
Die Mindestsicherung steht seit geraumer Zeit im Mittelpunkt der Diskussion. Auch im Zuge der Koalitionsverhandlungen zwischen ÖVP und FPÖ im Herbst 2017 gibt es entsprechende Überlegungen (siehe hier).
Aber ist die Behauptung, dass die Kostensteigerungen in der Mindestsicherung vor allem eine Folge der Migration sind, faktisch belastbar, und wenn ja, wie hoch wäre das Einsparungspotenzial?
Die Zahl der Bezieher bedarfsorientierter Mindestsicherung stieg bereits von 2012 bis 2014 – also vor der großen Flüchtlingswelle 2015 – um 24 Prozent. Die Steigerung von 2014 bis 2016 lag dann bei 31 Prozent. Auffällig ist, dass sich innerhalb dieser beiden Jahre die Zahl der asylberechtigten Bezieher etwas mehr als verdoppelt hat.
Im Jahr 2016 lag der Gesamtaufwand für die Mindestsicherung bundesweit knapp unter einer Milliarde Euro, rund ein Drittel davon entfiel auf Asylberechtigte. Wenn nun österreichweit Kürzungen wie in Niederösterreich beschlossen werden, so würde das Einsparungen von rund 55 Millionen Euro bringen. Das ist zwar ein hoher Betrag, der allerdings bei Gesamtkosten für die bedarfsorientierte Mindestsicherung von einer knappen Milliarde nur fünf Prozent entspricht. Im Detail haben wir die Gesamtkosten der Flüchtlingskrise bereits dargestellt.
Die niederösterreichische Regelung sieht eine geringere Mindessicherung für Personen vor, die in den letzten sechs Jahren weniger als fünf Jahre im Inland verbracht haben. Diese Kürzungen können – Stichwort Treffsicherheit – in Einzelfällen auch österreichische Staatsbürger treffen, sofern sie längere Zeit im Ausland gelebt haben.
Zu den politischen Gesprächen, Verteilungsdebatten und Kürzungen äußerst sich die Politologin Margit Appel kritisch:
Ein ganz ähnliches Bild für die Rolle der Flüchtlinge in der Kostenentwicklug des Sozialsystems zeigt eine Bestandsaufnahme des Sozialministeriums zum Arbeitsmarkt. Von 2008 bis 2016 stieg die Zahl der Arbeitslosen insgesamt von rund 263.000 auf 490.000 um über 85 Prozent. Im Jänner 2016 waren 21.500 Asylberechtigte und subsidiär Schutzberechtigte arbeitslos gemeldet – das sind etwa fünf Prozent der Arbeitslosen insgesamt. Das Sozialministerium rechnet in diesem Bereich mit größerem Zuwachs, weshalb in die aktive Arbeitsmarktpolitik für anerkannte Flüchtlinge investiert werde.
Für die steigende Arbeitslosigkeit in der Vergangenheit war laut Sozialministerium die schwache Konjunkturlage entscheidender als die Flüchtlingswelle 2015. Und wenn die Arbeitslosigkeit zur Langzeitarbeitslosigkeit wird, endet auch das Arbeitslosengeld. Für die Betroffenen ist der nächste Schritt die Beantragung der Notstandshilfe.
Die Notstandshilfe nahm unter den Sozialleistungen bisher eine Art Mittelposition zwischen den Leistungen der Arbeitslosenversicherung und der bedarfsorientierten Mindestsicherung ein. Das Arbeitslosengeld ist auf 20 bis maximal 52 Wochen befristet. Die Mindestsicherung hat aber für viele Bezieher den Nachteil, dass vor einer Auszahlung Ersparnisse und Besitz – bis hin zum Privat-Kfz – veräußert werden müssen, sodass die Notstandshilfe und ihre prinzipiell mögliche Verlängerung attraktiver erscheint.
Finanziell entspricht die Notstandshilfe bis zu 95 Prozent des Arbeitslosengeldes, allerdings wird das Einkommen des Partners mitberücksichtigt, was für viele Bezieher – meistens Frauen – deutliche Einbußen bis hin zu einem kompletten Leistungsentfall und in der Folge finanzielle Abhängigkeit von ihren Partnern bedeutete.
Als Grundbetrag des Arbeitslosengeldes gebührt ein Tagsatz in der Höhe von 55 Prozent des bisherigen täglichen Nettoeinkommens.
Im Vorfeld der Nationalratswahl 2017 einigten sich SPÖ, FPÖ und Grüne daher auf eine Reform der Notstandshilfe. Das Einkommen der Partner wird seither nicht mehr für die Notstandshilfe berücksichtigt – ein Vorteil für 20.000 der 180.000 Notstandshilfebezieher, die nun finanziell unabhängiger werden (Näheres dazu hier). Den Staat kostet diese Reform rund 160 Millionen Euro. Tatsächlich finden sich unter den Profiteuren aber nicht nur Frauen, sondern auch Männer – speziell im Alter 55+. Diese auf dem Arbeitsmarkt oft nur schwer vermittelbare Gruppe zählt plötzlich zu den Nutznießern der Reform, die eigentlich für Frauen gedacht war. Sofern in diesen Familien die Frau berufstätig ist, bleibt ihr Einkommen unberücksichtigt, und der langzeitarbeitslose Ehegatte erhält nun ungekürzte Notstandshilfe.
Dass im Unterschied zur Mindestsicherung bei der Notstandshilfe keine Kürzungen angedacht waren, sondern – im Gegenteil – sogar Leistungserweiterungen vorgenommen wurden, lag wohl auch daran, dass diese hauptsächlich von österreichischen Staatsbürgern in Anspruch genommen wird.
Die Notstandshilfe wandelt sich damit zu einer Sozialleistung, die weniger auf eine konkrete Notlage abstellt, sondern vielmehr auf den Erhalt eines bisherigen Lebensstandards – Kostenpunkt: 160 Millionen Euro jährlich.
Die Anzahl der Pflegegeldbezieher ist in Österreich von 2005 bis 2015 um 40 Prozent gestiegen. Dementsprechend wurden auch Pflegeheime und Betreuungsplätze stark ausgebaut. Das verursachte hohe Kosten. In den vergangenen Jahren hat sich dieser Ausbau verlangsamt. Bei entsprechender Bedürftigkeit gibt es unabhängig vom Einkommen einen Anspruch auf Pflegegeld, nicht aber auf einen Pflegeheimplatz.
Investiert wurde nicht nur in die Zahl der Betreuungsplätze, sondern auch in die Qualität. Achtbettzimmer ohne jegliche Privatsphäre gehören mittlerweile der Vergangenheit an. Der Standard liegt nun bei Doppel- beziehungsweise sogar Einbettzimmern – etwas, was man aufgrund der damit verbundenen Kostensteigerungen durchaus kritisch betrachten könnte.
Als Paradebeispiel für mangelnde soziale Treffsicherheit im Pflegebereich gilt die Seniorenresidenz Seefeld. Das Haus gehört zum Gemeindeverband Altenwohnheim Telfs und punktet bei seinen Bewohnern mit einem malerischen Ausblick auf die Hohe Munde in Tirol. Geplant, eingereicht, gefördert und gebaut wurde ein Pflegeheim mit 46 Zimmern und 72 Plätzen. Rechnerisch ergibt dies 26 Doppelzimmer und 20 Einzelzimmer.
Der Rechnungshof bemängelte anlässlich einer Prüfung im Jahr 2009, dass damit der vorgeschriebene Einzelzimmeranteil von 90 Prozent nicht einzuhalten war und dass einige Zimmer für betreutes Wohnen genutzt wurden, für die es eigentlich nur eine geringere Förderung gegeben hätte. Im Jahr 2014 berichtete der Rechnungshof, dass die Bettenanzahl auf 40 reduziert wurde und dass das zu Unrecht erhaltene Wohnbauförderungs-Darlehen (rund 1,84 Millionen Euro) zurückzuzahlen wäre.
Das Land Tirol förderte also Pflegeheimplätze, die es nie gab, mit fast zwei Millionen Euro. Geld, das für tatsächliche Betreuungsplätze hätte verwendet werden können.
Die Familienbeihilfe ist in Österreich eine einkommensunabhängige Pauschalleistung für Kinder. Ihre Höhe hängt von der Anzahl und dem Alter der Kinder innerhalb der Familie ab. Für die Anwendung des Gießkannenprinzips spricht, dass der dafür zuständige Familienlastenausgleichsfonds überwiegend aus lohnbezogenen Abgaben gespeist wird. Dagegen spricht die mangelnde soziale Treffsicherheit.
Speziell Ein-Eltern-Haushalte und kinderreiche Familien sind oft armutsgefährdet. Rund 380.000 Kinder und Jugendliche – das sind knapp 20 Prozent der unter 20-Jährigen – leben mit Armuts- oder Ausgrenzungsgefährdung. Ein Blick über die Grenzen – etwa nach Slowenien oder Kroatien – zeigt, dass es durchaus Länder gibt, in denen die Familienbeihilfe einkommensabhängig ist.
In Österreich drehte sich Debatte zuletzt jedoch darum, ob – und wenn ja, wie – man die Familienbeihilfe für im Ausland lebende Kinder kürzen kann. Wir haben nachgerechnet und basierend auf aktuellen Daten aus dem Familienministerium erhoben, wie viel Geld damit tatsächlich einzusparen wäre. Unterm Strich kamen wir auf eine Summe von rund 140 Millionen Euro.
Die Anpassung der Familienbeihilfe und des Kinderabsetzbetrags würde sich nach dem diskutierten Modell an den Lebenshaltungskosten jener Länder orientieren, in denen die unterstützten Kinder wohnen. Rund 95 Prozent der Leistungen gehen derzeit in acht Länder: Ungarn, Slowakei, Polen, Rumänien, Slowenien, Tschechien, Kroatien und Bulgarien. Selbstverständlich wären solche Anpassungen auch nach obenhin vorzunehmen – etwa wenn Kinder von in Österreich beschäftigten Personen in Ländern mit höheren Lebenshaltungskosten wie etwa Schweden wohnen. Dementsprechende Mehraufwendungen wären allerdings verschwindend gering.
Die EU-Kommission bewertete einen solchen Plan zuletzt skeptisch, siehe hier. Kritiker verweisen auch darauf, dass mit den Anpassungen auch ein höherer Verwaltungsaufwand verbunden wäre, siehe hier.
Aktuell verursacht die Verwaltung der Familienleistungen nur einen sehr geringen finanziellen Aufwand . Ob diese Überlegungen zur Kürzung von Leistungen von der künftigen Regierung fortgeführt werden, ist noch nicht klar. Der wahrscheinliche nächste Bundeskanzler, Sebastian Kurz, war jedenfalls einer der lautesten Befürworter dieses Plans.
Eine Analyse der EU zeigt, dass trotz umfassender Leistungen im Sozialstaat Österreich immer noch rund 1,5 Millionen Menschen oder etwa 18 Prozent der Bevölkerung als armuts- oder ausgrenzungsgefährdet gelten. Das anhand der Beispiele aufgezeigte Kürzungspotenzial bei der Zuwanderung in den Sozialstaat und beim Export von Sozialleistungen von rund 190 Millionen ist bei Gesamtausgaben von rund 100 Milliarden Euro vergleichsweise gering.
Außerdem ist Armutsgefährdung kein Phänomen nur der jüngeren Vergangenheit. Eine – wenn man so will – „schnelle und einfache“ Lösung durch Maßnahmen bei Migranten scheint es also für das Gesamtsystem nicht zu geben. In Anbetracht der Vielzahl an Leistungen und des großen finanziellen Mitteleinsatzes erscheint es eher notwendig, über die Verteilung an sich nachzudenken.
Bei der Bewertung von Verteilungsgerechtigkeit lohnt sich zum Abschluss noch ein zweiter Blick auf das exemplarische Beispiel der Familie von Ex-Vizekanzler Michael Spindelegger. Bei einem monatlichen Einkommen von 29.633 Euro machen die Familienleistungen in Höhe von 350 Euro gerade einmal ein Prozent aus. Bei jenem Paar, das gemeinsam auf 1.850 Euro im Monat kommt, jedoch 20 Prozent. Wer ist nun bedürftiger?