Österreich ist ein Sozialstaat. Diese Feststellung findet sich nicht in der Bundesverfassung, aber sie drängt sich angesichts des im internationalen Vergleich dichten Sicherungsnetzes, das die Republik für ihre Bürger knüpft, auf. Wer alt, krank, arbeitslos oder arbeitsunfähig wird, um den kümmert sich eine vom Staat geschaffene und gelenkte Struktur aus Versicherungen und Sozialeinrichtungen. Dabei wird immer wieder mangelnde Transparenz, Reformunfähigkeit und eine zu verzweigte Kompetenzlage kritisiert. Die Ursachen dafür liegen oft im über Jahrhunderte gewachsenen System.
Lange Zeit beschränkt sich die staatliche Sozialfürsorge auf Mildtätigkeit. Die soziale Sicherung findet weitgehend innerhalb der Familie oder des Berufsstandes statt, wer nicht Teil dieses Systems ist oder aus ihm herausfällt, wird von der Gemeinde gnadenhalber versorgt.
Das erste provisorische Gemeindegesetz, das Kaiser Franz Joseph 1849 erlässt, übernimmt diese gewachsenen Strukturen. Die Gemeinden müssen nun von Gesetz wegen, falls „zur Armenversorgung die Mittel der Wohlthätigkeitsvereine und der bestehenden Anstalten nicht ausreichen“ selbst „den erforderlichen Bedeckungsbeitrag aus der Gemeindecasse“ aufbringen. Damals geht es um den Erhalt einiger „Armenhäuser“, „Greisenasyle“ und Spitäler, die gesellschaftliche Entwicklung bringt jedoch eine immer weitergehende Steigerung in Dimension und Professionalität der Einrichtungen.
Es ist eine finanzielle Last, die die Gemeinden bis heute nicht loswerden. Auch wenn viele keine eigenen Spitäler oder Altersheime betreiben: Den Beitrag dafür müssen sie wie vor Jahrhunderten noch immer aus dem Gemeindebudget leisten.
Am Beginn der Entwicklung des modernen Sozialstaats steht die industrielle Revolution. Die durch sie verursachte größere Mobilität der Bevölkerung und die Herausbildung einer Arbeiterschicht überfordert die althergebrachten Strukturen.
In Preußen leitet Otto von Bismarck Sozialreformen als Strategie zum Machterhalt ein. Gleichzeitig bekämpft er die erstarkende Sozialdemokratie. In Österreich regelt die Gewerbeordnung von 1859 – wenn auch nur rudimentär – erstmals die Unfall- und Krankenversicherung der Arbeiter. In Wien wird 1868 die Allgemeine Arbeiter-Kranken- und Invalidenkasse, die Vorgängerin der Wiener Gebietskrankenkasse (WGKK), gegründet.
1881 berichtet die Neue Freie Presse als erste österreichische Zeitung vom neuen Phänomen Wohlfahrtsstaat, indem sie eine Rede des Abgeordneten und Großgrundbesitzers Hieronymus Graf von Mannsfeld zitiert:
Dieser trage, so Graf Mannsfeld, „die Verantwortung für das durchschnittliche Einkommen des einzelnen Staatsbürgers“. Tatsächlich findet sich in der öffentlichen Debatte der Zeit immer wieder der Konnex zwischen Recht und sozialer Gerechtigkeit. „Sozialstaat“ hingegen ist damals noch ein politischer Kampfbegriff, der kommunistische Staatskonzepte zusammenfasst.
Die Kronländer erhalten die verfassungsrechtliche Zuständigkeit, „gemeinnützige und wohlthätige Anstalten“ zu unterhalten. Viele Gesundheits- und Sozialeinrichtungen werden in der Folge von Ländern und Gemeinden im Tandem betrieben. Daran ändern weder die ständig wechselnden Verfassungen der Monarchie noch die Ausrufung der Republik etwas.
Was sich aber ändert, ist die Gesellschaft und ihr Anspruch an den Sozialstaat. Die Aufgaben wachsen, ihre Verteilung bleibt weitgehend gleich. Die Kosten für Gesundheitsversorgung und Altenbetreuung wachsen stetig. Immer wieder übertragen überforderte Gemeinden auch Institutionen wie Spitäler oder Kindergärten an das Land, trotzdem bleiben ihnen viele Kosten. Sie müssen sie in Form von Umlagen an die Länder leisten.
Dass die Gemeinden nicht nur den Erhalt und Betrieb von Spitälern und Altersheimen aus ihren Budgets mitzufinanzieren haben, sondern auch Sozialleistungen, belastet sie zudem. So musste das Land Niederösterreich den Gemeinden 2014 in diesem Bereich Zugeständnisse machen und das Wachstum der sogenannten Sozialhilfeumlage bremsen. Sie hätte jährlich um sieben Prozent ansteigen sollen.
Hinzu kommen je nach Land und Gemeinde noch Sozialhilfe-Wohnsitzgemeindebeiträge, Zuschüsse für vergünstigte Öffitickets oder Jugendwohlfahrts- und Schulgemeindeverbandsumlagen. Im Voranschlag der Stadt Mödling für das Jahr 2018 machen solche Transferleistungen an das Land beispielsweise etwa 17 Prozent des ordentlichen Haushalts aus.
Ein unter der Führung des Rechnungshofs tagendes Gremium zur Vorbereitung einer Verwaltungsreform empfahl 2009 zur „Reduzierung der intragovernmentalen Transferströme“ die „Entflechtung der Trägerschaft“ anzustreben. Die Kompetenzreform sollte Budgets und Verantwortung an jene übertragen, die Sozialleistungen verwalten. Das wurde bisher nicht umgesetzt. Die Aufgabenverteilung bleibt hier im Wesentlichen auf dem Stand des 19. Jahrhunderts.
Andere Bereiche des sozialstaatlichen Netzes, wie Pensions-, Kranken- und Gesundheitsversicherungssystem, haben sich dynamischer entwickelt. Aber auch da finden sich versteinerte Strukturen.
Die Selbstverwaltung der ab 1868 schrittweise gegründeten Krankenkassen ist eine Errungenschaft der Arbeiterbewegung. Die Arbeiter organisieren mangels staatlicher Initiativen im zunehmenden Maß eigene soziale Absicherungssysteme. 1888 wird mit dem Krankenversicherungsgesetz eine rechtliche Grundlage für diese Entwicklung geschaffen und die Pflichtversicherung eingeführt. Ab den 1920er Jahren fusionieren die einzelnen Institute zu Gebietskrankenkassen, die Selbstverwaltung bleibt bis zum Beginn der Diktatur 1934 bestehen.
Formal werden die Sozialversicherungen immer noch von ihren Versicherten selbstverwaltet. Direktwahlen gibt es aber seit 1945 nicht mehr.
Noch immer berufen sich die Versicherungsträger auf dieses Recht. Doch die Selbstverwaltung, in der früher Vertreter direkt von den Versicherten gewählt wurden, ist längst zu einem von den Sozialpartnern indirekt beschickten System geworden. 1945 wurden die Wahlen mit Verweis auf die Kriegsschäden beendet – ein Provisorium, das bis heute anhält.
Kaiser Karl legt 1917 das Fundament für jene sozialgesetzgeberischen Reformen, die 1956 im Allgemeinen Sozialversicherungsgesetz (ASVG) gipfeln. Unter seiner Ägide werden die Krankengelder erhört sowie die Mitversicherung von Angehörigen und die Deckelung der Mieten, der sogenannte Friedenszins, eingeführt. Gleichzeitig gründet er ein Staatsamt für Soziale Fürsorge, das als Vorläufer des Sozialministeriums gilt.
Karls Strategie ist es, die Sozialdemokratie als politischen Faktor in die Sicherung seiner Herrschaft einzubinden. Seine Reformen sichern letztlich nicht das Überleben der Monarchie, werden aber von der Republik übernommen und weitergeführt. 1920 wird von der kurzlebigen Großen Koalition die Arbeitslosenversicherung eingeführt, flankiert von weiteren Maßnahmen wie der Einführung von Achtstundentag und Urlaubsanspruch sowie der Schaffung von Arbeiterkammern.
Als Meilenstein der österreichischen Sozialgesetzgebung wird das ASVG verstanden, es führt 1956 erstmals verschiedene Versicherungssysteme für Unfall, Krankheit und Pension zusammen und stellt sie auf eine gemeinsame gesetzliche Grundlage.
Um auch der von Hyperinflation und Arbeitslosigkeit betroffenen Kriegsgeneration eine sichere Pension zu garantieren, wird das Umlageverfahren festgeschrieben, das auch als „Generationenvertrag“ bekannt wird. Beitragszahler finanzieren nicht ihre eigene Pension, sondern jene der gegenwärtig Anspruchsberechtigten. In den Jahren nach dem Inkrafttreten des ASVG werden zudem die sogenannten Altrenten von bereits bestehenden Beziehern schrittweise angehoben.
Doch auch das Allgemeine Sozialversicherungsgesetz rüttelt nicht an den Versicherungstrukturen des 19. Jahrhunderts. Neben den Gebiets- und Betriebskrankenkassen bleiben Versorgungssysteme außerhalb des Gesetzes bestehen. So ist die Kranken- und Unfallversicherung der Beamten nach wie vor vom ASVG nicht erfasst. Dennoch ist es heute mit 894 Paragrafen und 128 Übergangsbestimmungen nach dem Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch das umfangreichste Bundesgesetz. Eine Reform des ASVG ist ausständig, auch wenn es bereits Gegenstand der Verständlichkeitsforschung ist.