Zahraa sieht gezeichnet aus. Ihr Gesicht ist eingefallen, das Kopftuch nur schlaff um das Haupt gewickelt: Die 60-Jährige liegt im Krankenbett eines Spitals in der jemenitischen Hauptstadt Sanaa und bekommt Infusionen. Zahraa ist an Cholera erkrankt, die ausbrach, als die Müllabfuhr der 1,7-Millionen-Einwohner-Metropole im Rahmen eines Streiks die Arbeit niederlegte.
Im ganzen Land, in dem seit 2015 nach einer militärischen Intervention Saudi-Arabiens Krieg herrscht, sind inzwischen 700.000 Menschen an Cholera erkrankt. Die Betroffenen brauchen Hilfe. Das Rote Kreuz warb seit Beginn „einer der schwersten humanitären Krisen weltweit“ (Zitat: Weltgesundheitsorganisation) mit Zahraas Schicksal um Spenden. Dafür hat sich die Frau – gemeinsam mit ihrem Mann – fotografieren lassen. Das Internationale Komitee des Roten Kreuzes (IKRK) schickte das Bild via Twitter um die Welt. Auch in Österreich kam es an. Und auch in Österreich warb und wirbt das Rote Kreuz bis heute mit Zahraas Geschichte um Spenden.
60-year-old Zahraa lies sick with cholera at a hospital in Sana’a, #Yemen. Numbers affected continue to rise with 14,065 suspected cases. pic.twitter.com/E3KEdlNbhI
— ICRC (@ICRC) 16. Mai 2017
Erfolgreich. Das Österreichische Rote Kreuz (ÖRK) ist der größte Empfänger von Spenden im Land. 67,16 Millionen Euro erhielt der rote Riese 2016 zur mildtätigen Verwendung. Nur im Flüchtlings-Krisenjahr 2015 war die Bevölkerung noch spendabler. Für 2015 weist das Ranking des Fundraisingverbands 71,73 Millionen Euro aus. Noch erfolgreicher im Werben um das Geld gewordene Mitgefühl damals: die Caritas mit 72,32 Millionen Euro.
Solche Summen schaffen Verantwortung, ganz von selbst. Verantwortung gegenüber den Spendern, die im Glauben, etwas Gutes zu tun, Herz und Geldbörse öffnen. Und Verantwortung gegenüber der Empfängergesellschaft, deren Gefüge – insbesondere in Entwicklungsländern – durch so viel Geld von außen schnell aus dem Gleichgewicht geraten kann.
Darunter versteht man Organisationen, die nicht auf Gewinn ausgerichtet sind (Non-Profit-Organisation: NPO). Nach landläufigem Verständnis gehen diese in der Regel mildtätigen, kirchlichen oder gemeinnützigen Tätigkeiten nach.
NPOs können jedoch auch anderen Zwecken dienen, etwa kulturellen, wissenschaftlichen oder politischen. Demnach wären auch Parteien, Kulturvereine oder Selbsthilfegruppen NPOs.
NPOs können sich durch Zuwendungen aus öffentlichen Geldern, der eigenen Tätigkeit oder eben Spenden Dritter finanzieren. Typisch ist, dass sich zumindest ein Teil der Mitarbeiter freiwillig engagiert.
Seriöse Hilfsorganisationen wie das ÖRK und die Caritas werben deshalb unter anderem mit absoluter Transparenz. In der „Spendenselbstverpflichtung“ des Roten Kreuzes etwa steht: „Der jährliche Leistungsbericht informiert die Öffentlichkeit über die erfolgte Verwendung der Spendenmittel.“ Die Caritas Österreich macht es in einer öffentlichen Information zur Spendenverwendung ganz ähnlich: „Genaue Informationen zur Spendenverwendung entnehmen Sie bitte dem aktuellen Jahresbericht.“
Allein: Die in Aussicht gestellten Informationen suchen Spender hier vergeblich. Eine Recherche bei den größten Spendenempfängern des Landes ergab, dass die Branche weitaus weniger transparent ist, als sie sich nach außen gibt. Wie kommt das?
Um den Grad der proaktiven und damit freiwilligen Information gemeinnütziger Organisationen gegenüber ihren Gönnern einzuordnen, haben wir uns die öffentlich zugänglichen Jahres-, Finanz- und Spendenberichte der zehn größten und bekanntesten NPOs (Non-Profit-Organisationen) beschafft und anschließend analysiert, welche Detailinformationen über die empfangenen Gelder darin enthalten sind.
Auf diese vergleichsweise kleine, aber finanzkräftige Gruppe konzentrieren sich immerhin 42 Prozent des Gesamtspendenaufkommens in Österreich (2016: 640 Millionen Euro; Quelle: Fundraisingverband). Im Berichtsjahr 2016 entsprach das 270,3 Millionen Euro.
Im Rahmen der Auswertung fiel auf, dass zwar überall mit Nachvollziehbarkeit, Transparenz und – bei den meisten – mit der Führung des Spendengütesiegels geworben wird, bis auf zwei Ausnahmen jedoch keine Organisation angibt, wie viel Spendengeld genau in welches Projekt fließt. Wie sieht das dann aus?
Auf die zehn größten Spenden empfangenden NPOs im Land entfallen 42 Prozent des Gesamtaufkommens. Das entspricht immerhin 270,3 Millionen Euro.
Das augenscheinlich größte Defizit in Sachen aktive Spenderinformation hat der größte Empfänger. In einer 36-seitigen Hochglanzbroschüre, dem Jahresbericht, beschreibt das Rote Kreuz in bunt bebilderten Reportagen seine beachtenswerte Arbeit, würdigt das Engagement von 8.236 angestellten und 73.598 freiwilligen Helfern. Aber nur ein einziges Mal, auf Seite 19, nimmt die Organisation direkt und in einem Satz Bezug auf das Thema Geldspenden:
„Im Jahr 2016 erzielte das Österreichische Rote Kreuz durch Spenden und Mitgliedsbeiträge Einnahmen in der Höhe von EUR 67.159.495.“ Darüber, wohin diese Summe floss, gibt es keine Information. Und das, obwohl in der Spendenselbstverpflichtung steht: „Der jährliche Leistungsbericht informiert die Öffentlichkeit über die erfolgte Verwendung der Spendenmittel.“
Eine Methode, die sich wie ein roter Faden durch die zehn größten Spendenorganisationen zieht. In der Regel sind deren Jahres- und Rechenschaftsberichte eine Ansammlung von professionell gestalteten Reportagen über Vorzeigeprojekte und einer immerwiederkehrenden Zeile im Finanzteil. Diese Zeile lautet fast immer gleich: „Leistungen für statutarisch festgelegte Zwecke.“ Dahinter steht dann die Summe der dafür eingesetzten Spendenmittel.
Zwar versuchen einige Organisationen, zumindest den Tätigkeitsfeldern ihres Wirkens auch Summen zuzuordnen. So kommuniziert „Vier Pfoten“, dass 12,32 Prozent seiner Mittel in Höhe von knapp elf Millionen Euro in Projekte zum Schutz von Löwen flossen. „Licht für die Welt“ legt offen, wie viele Projekte es in welchem Land unterstützt. Und Wiens Caritas gibt bekannt (Seite 8), dass sie 5,3 Millionen Spenden-Euro in Hilfe für „Menschen in Not“ investierte.
Nur zwei der großen NPOs, Ärzte ohne Grenzen und die Dreikönigsaktion, rechnen ihren Geldgebern präzise und proaktiv vor, in welches Projekt wie viel Geld fließt. Alle anderen geloben zwar Transparenz, leben diese – im Vergleich zu den genannten zwei – jedoch nicht wirklich.
Wohin genau jedoch welche Summe zu welchem Zweck erging, das sagen freiwillig nur zwei: Ärzte ohne Grenzen (Download Finanzbericht) und die Dreikönigsaktion (Download Projektbericht) der Katholischen Jungschar (Sternsinger). Beide listen detailliert und tabellarisch auf, was wo wie viel gekostet hat. Warum? Und warum tun das die anderen nicht?
„Weil wir uns über unsere Tätigkeiten definieren, und nicht über Zahlen“, sagt Gabriela Loreth-Kurz. Die ehemalige Managerin von Boehringer Ingelheim ist seit 2007 Finanzchefin des Österreichischen Roten Kreuzes. Von ihrem Büro im vierten Stock der Wiener Zentrale aus steuert sie in dieser Funktion eine selbstbewusste Organisation. Dieses Selbstbewusstsein kommt nicht von irgendwo. Im aktuellsten Glaubwürdigkeitsranking des SORA-Instituts (Seite 21) liegt das Rote Kreuz in der Wahrnehmung der Bevölkerung mit 93 Prozent sogar vor der Polizei (85). Noch mehr Vertrauen schenkt man hierzulande nur der Feuerwehr (98).
Loreth-Kurz glaubt, dass es „für Mitglieder und Spender keine Rolle spielt, welche Bilanzsummen wir legen. Deren Höhe würde nur für Verwirrung sorgen. Die Leute interessiert viel mehr, was wir leisten: Rettungsdienst, Pflege, Katastrophenhilfe.“ Den Bericht des Wirtschaftsprüfers gibt sie – anders als etwa Ärzte ohne Grenzen oder die Kindernothilfe – nicht aus der Hand. „Wenn Sie den lesen, würde das mehr Fragen aufwerfen, als wir beantworten dürfen.“
Im internen Rechnungslauf aber, das versichert die 54-Jährige, wisse man genau, wohin das Spendengeld fließe. Wie viel welches Projekt koste. Bei gewidmeten Geldern würde auf den jeweiligen Konten sogar bis zur Mittelverwendung ein entsprechender Code mitgeführt.
Dass man als Spender nicht mehr über den Verbleib von über 67 Millionen Euro jährlich erfährt, hat nach Darstellung des ÖRK jedoch noch einen weiteren Grund: die komplexe Struktur aus Bundes- und Landesverbänden.
Ein Argument, das die Nummer 2 auf dem Spendenmarkt, die Caritas, ebenfalls anführt. Auch dort, heißt es, sei ein gemeinsames, präzises Bild der Aktivitäten von Bundes- und Diözesanorganisationen kaum zu zeichnen. Und auch dort reicht die Information über allgemeine Themen der Spendenverwendung („Familienorientierte Arbeit“ oder „Asyl, Migration und Integration“) nicht hinaus. Sowohl im Inland als auch bei den umfangreichen Aktivitäten im Ausland, „da wir dort einerseits mehrere hundert Projekte abwickeln und andererseits Nachteile für Projektpartner in den Krisenregionen entstehen können“, sagt Angelika Simma-Wallinger, Leiterin der Abteilung Kommunikation bei der Caritas Österreich.
Dass die schiere Zahl an (mit)finanzierten Projekten und der Schutz politisch verfolgter Partner im Ausland bei der Transparenz keine Hindernisse sein müssen, zeigt der bereits erwähnte Projektbericht der Dreikönigsaktion. Darin sind 529 Engagements inklusive der verwendeten Spendensumme vermerkt. Hat ein Projektpartner Angst vor Verfolgung, kann er das sagen – und wird namentlich nicht genannt.
Auch vom Aufwand her scheint es nach unseren Recherchen keinen Grund dafür zu geben, dass die Caritas keine finanziellen Details zu ihren Auslandsprojekten veröffentlicht. Die Daten liegen nämlich vor. Einmal im Jahr werden diese nämlich zentral von der Koordinierungsstelle (KOO) der Österreichischen Bischofskonferenz bei allen angegliederten Hilfswerken erfasst. Auch jene der Caritas.
„Derzeit“, sagt KOO-Leiter Heinz Hödl, „haben wir Informationen über 3.527 Engagements“. Sichtbar zufrieden sitzt er an seinem Schreibtisch im dritten Stock des Afro-Asiatischen Instituts in Wien und dreht den Monitor des Computers so, dass wir einen Blick auf unzähligen Einträge wahrnehmen können. Warum diesen Schatz nicht alle Organisationen öffentlich machen?
Hödl räumt ein, dass die Dreikönigsaktion seit vielen Jahren „auch innerhalb der kirchlichen Missionen eine gewisse Vorreiterrolle einnimmt“. Der 64-Jährige war selbst einige Jahre als Entwicklungshelfer im Ausland und weiß, wie wichtig vetrauensbildende Maßnahmen zu Hause in der Heimat – also dort, wo das Geld herkommt – sind. In seiner Brust scheinen zwei Herzen zu schlagen. „Einerseits“, sagt er, „stellt sich schon die Frage, wie genau es die Spender in Zahlen wirklich wissen wollen.“ Und andererseits?
Auf dem Spendenmarkt, so seine Diagnose, werde der Wettbewerb zwischen den Organisationen härter. Das Maß an Transparenz könne dabei in Zukunft zu einem wichtigen Faktor werden. Mehr noch als jetzt. Hödl glaubt, dass der Trend eindeutig in diese Richtung geht. „Es ist gut möglich, dass die großen Organisationen schon in fünf Jahren ihre Bilanzen öffentlich machen.“
Der Spendenmarkt, also die Summe der jährlich erzielten Gelder, scheint laut den Daten des Fundraisingverbands jedenfalls seinen Zenit erreicht zu haben (siehe Grafik).
Dabei gibt es in der Branche Organisationen und Führungskräfte, die die Aussagekraft von Jahresberichten nach den Vorgaben des Spendengütesiegels bemängeln. Gottfried Mernyi ist so jemand. Seit 2013 führt er die Geschäfte der Kindernothilfe (Spendenvolumen 2016: 2,8 Millionen Euro). Keinesfalls, sagt er, will er dabei falsch verstanden werden. Das Gütesiegel, das auch seine Organisation trägt, sei ein Anfang. „Aber eben nicht alles.“
So ließen die Richtlinien zur Offenlegung der Geschäftstätigkeit einiges an „Interpretationsspielraum“ zu. Es sei durchaus möglich, Personal- und der Auslandsarbeit zugeordnete Sachkosten der im Jahresbericht und vom Spendengütesiegel vorgeschriebenen Position „Leistungen für statutarisch festgelegte Zwecke“ zuzuordnen. Mernyi ist überzeugt davon, dass der gewöhnliche Spender darunter Ausgaben für die unmittelbare Arbeit vor Ort versteht. „Tatsächlich“, sagt er, „kann darin jedoch noch mehr verbucht sein.“
Gänzlich unberücksichtigt bleibe beim Spendengütesiegel auch die Wirkungsmessung. Eine – laut Mernyi – generelle Schwäche der Branche.
Zumindest Teile der Branche schwächeln noch an einer anderen Stelle. Einer jener Marker, der sich bei vielen Geldgebern als Indikator dafür herauskristallisiert hat, wie „effizient“ eine Organisation arbeitet, ist der Aufwand für Spendenwerbung. Träger des Spendengütesiegels müssen das in ihren Jahresberichten ausweisen. Und schreiben nicht selten dazu, wie viel Prozent das ausmacht. Aber: Prozent wovon?
SOS Kinderdorf gibt an, 6,3 Millionen Euro und damit 5,6 Prozent seiner Mittel für Spendenwerbung auszugeben. Tatsächlich finanziert sich die Organisation jedoch nur zu einem Drittel aus Spenden. Nimmt man deren Summe (33,7 Millionen Euro) als Maßstab, dann sieht die Rechnung ganz anders aus. Dann verdreifacht sich mit einem Schlag der Fundraising-Anteil auf 16,7 Prozent.
Und auch wenn „Licht ins Dunkel“ wegen seiner – in Anbetracht der Größe – auffällig geringen Ausgaben für Spendenwerbung (330.000 Euro) wie ein Musterschüler aussieht: Tatsächlich müsste man die Kosten der der Aktion gewidmeten TV- und Radiosendungen einrechnen. Diese tragen nämlich Gebührenzahler und Werbekunden des ORF.
Aufstellung der Ausgaben aus dem Jahresbericht 2016 von SOS Kinderdorf
Aufstellung der Einnahmen aus dem Jahresbericht 2016 von SOS Kinderdorf
Bleibt zu klären: Wozu der Aufwand? Tatsächlich ist es nämlich so, dass die Detailberichte zu Geldflüssen bei jenen zwei Organisationen, die sie veröffentlichen, von Spendern kaum nachgefragt werden. Offenbar geht es bei der Veröffentlichung hauptsächlich darum, das Gefühl zu vermitteln, dass man alles erfährt, wenn man nur will. Wie bei Ärzte ohne Grenzen.
Die Organisation finanziert sich nahezu ausschließlich aus privaten Spenden, um möglichst unabhängig agieren zu können. „Aus dieser Logik heraus“, sagt Mario Thaler, Geschäftsführer der Österreich-Sektion, „sind wir der Meinung, dass wir die Detailberichte unseren Unterstützern schuldig sind.“ Warum das Thema nicht alle so offensiv angehen?
„Vielleicht, weil wir weltweit einheitliche Buchhaltungs- und Reportingsysteme haben, und andere womöglich nicht.“ Vielleicht aber auch, weil sich die Organisation dadurch einen Marktvorteil gegenüber den Mitbewerbern erwartet. Wie sind deren Reaktionen auf die offensive Transparenz? Thaler: „Öffentlich kritisiert uns niemand dafür, aber ich weiß, dass nicht alle Organisationen zu viel Transparenz auch gut finden.“