Es ist ein überschaubares Lokal an einer Straßenecke hinter dem Berliner S-Bahnhof Lichterfelde. Geboten wird bodenständige Küche und zeitloses Ambiente. In der warmen Jahreszeit stehen auch einige Tische im Freien. Und genau dort nehmen am 23. Mai 2014 zwei besondere Gäste Platz.
Der eine ist Hauptkommissar beim Landeskriminalamt Mecklenburg-Vorpommern. Der andere arbeitet gerade einmal eine Straße weiter beim deutschen Bundesnachrichtendienst (BND) in Berlin. Dort ist er Experte für Russland und die russische Mafia. Der Name des Nachrichtendienstlers soll geheim bleiben. Sein Gesprächspartner, der Kommissar, nennt nur einen Decknamen: „Jewgeni“.
Was führt Kriminalhauptkommissar Heinz-Peter Hahndorf, der eigentlich für Extremismus-Ermittlungen zuständig ist, mit einem BND-Experten für die Russenmafia zusammen? Die Antwort darauf lässt an jenem Tag im Mai 2014 noch ein bisschen auf sich warten.
Agent „Jewgeni“ und Kommissar Hahndorf fühlen sich nämlich belauscht. Ein Mann am Nebentisch wirkt verdächtig. Amerikanischer Geheimdienst? Da wollen sie lieber nicht über das heikle Thema sprechen, das der Grund für das Meeting ist. Die beiden Männer verlassen das Lokal und gehen – getrennt voneinander – zu einem neuen Treffpunkt. Dort fühlen sie sich sicher. Und dort reden sie Klartext: über Dmitry Firtash.
Firtash, 53, ist ein Mann mit ganz besonderem Lebenslauf. Der Milliardär war jahrelang nicht weniger als das Bindeglied zwischen Russland und der Ukraine im sensiblen Bereich des Handels mit Erdgas. Das hat ihm viel Geld eingebracht, aber auch erbitterte Gegner. Der rasante Aufstieg des einstigen Lokführer-Lehrlings und späteren Feuerwehrmanns fand in den 1990er-Jahren, nach dem Zerfall der Sowjetunion statt. Eine chaotische Zeit des Auf- und Umbruchs, die er gut für sich zu nutzen wusste.
Mit zunehmendem wirtschaftlichen Einfluss begann der Gas-Milliardär auch, hinter den Kulissen in der Politik seines Landes mitzumischen. Außerdem ist der Ukrainer zumindest seit 15 Jahren in Österreich aktiv. Kein anderer Oligarch aus Osteuropa ist hierzulande dermaßen gut vernetzt wie Dmitry Firtash. Doch dazu später.
In Berlin sind Kommissar Hahndorf und BND-Mitarbeiter „Jewgeni“ gerade mitten in einem spannenden Gedankenaustausch über Firtash. Der Ukrainer sitzt in Österreich fest und versucht, einer von den USA verlangten Auslieferung zu entgehen. Bei Gericht in Chicago liegt eine Anklage gegen ihn vor. Es geht um den Vorwurf der Bestechung im Zusammenhang mit einem einst geplanten Rohstoffprojekt in Indien. Firtash bestreitet die Vorwürfe.
Mitte März 2014 war er in Wien auf offener Straße auf Basis eines US-Haftbefehls festgenommen worden. Gegen eine Kaution von 125 Millionen Euro kam er allerdings bis zur Klärung, ob eine Auslieferung rechtens ist, wieder auf freien Fuß.
Unmittelbar nach der Festnahme beginnen der Milliardär und ein enger Kreis aus Vertrauten Gegenmaßnahmen einzuleiten. Mehrere Anwälte und zwei PR-Agenturen werden engagiert. Im erweiterten Umfeld tummelt sich auch der eine oder andere Sicherheitsberater. Und es wird eine Dame angeheuert, die in der zwielichtigen Branche der privaten Informationsbeschaffer seit Jahren einen klingenden Namen hat: Christina Wilkening aus Berlin. Ihr Deckname aus Stasi-Zeiten lautet „Nina“. Das Firtash-Engagement wird das Ende ihrer illustren Tätigkeit als Privatagentin bedeuten und sie und mehrere Komplizen vor Gericht bringen.
Das ahnt Kommissar Hahndorf noch nicht, als er sich im Mai 2014 mit „Jewgeni“ in Berlin trifft. Hahndorf gehört zu „Ninas“ Leuten. Sie gibt ihm seit Jahren Geld, er tätigt illegal Personenabfragen im Polizeicomputer. Nun ist er für sie in Sachen Firtash unterwegs. Und was BND-Experte „Jewgeni“ preisgibt, könnte wertvoll sein. Der Nachrichtendienstler erzählt dem Kommissar brühwarm über angeblich abgehörte Telefongespräche Firtashs. Und er gibt Hahndorf Tipps, auf welchem Weg es sich am besten für Firtash intervenieren ließe.
So teilt es Hahndorf jedenfalls später anderen Personen mit. Dass das Gespräch stattgefunden hat, ist belegt. Den genauen Inhalt kennen aber klarerweise nur die beiden Teilnehmer. Es spielt zu diesem Zeitpunkt aber eigentlich keine Rolle mehr. Die Würfel sind bereits gefallen. Das Ende von Christina Wilkening und ihren Helfern ist unausweichlich, das System „Nina“ zerbricht an seinem größten Auftrag.
Dass die Ära der Privatagentin, die – direkt oder indirekt – von Unternehmen wie der OMV, der Vienna Insurance Group, einer Glücksspielfirma und zahlreichen anderen Auftraggebern seit Jahren Honorare im sechsstelligen Euro-Bereich einstreift, zu Ende geht, liegt an einem E-Mail, das zwei Tage vor dem geheimnisvollen Treffen im Mai 2014 in Berlin abgeschickt wurde. Nicht von Hahndorf, aber in dessen Auftrag von einem anderen deutschen Polizisten. Letzterer hatte einst ein Austausch-Schuljahr in den USA verbracht und kann besser Englisch als der Hauptkommissar. Wie sich herausstellen sollte, nicht gut genug.
Das Mail ist an die Adresse eines hochrangigen Beamten im US-Justizministerium gerichtet. Bei der Anrede will der Provinzpolizist aus Deutschland aber keine halben Sachen machen und wendet sich gleich an Minister Eric Holder persönlich. Er schreibt:
Dear Mr. Holder,
with letter from May 12th signed by Mr. Dmitry Firtash we are authorized to contact United States authorities to declare, that Mr. Firtash is willing to hold conversation about all questions, which are of interest for the United States of America.
Nach dieser Bekundung, „Konversation“ über alle Fragen führen zu wollen, die für die USA von Interesse seien, folgt das holprig formulierte Angebot, in Verhandlungen über die Vorwürfe gegen Firtash treten zu wollen. Hahndorf zahlt seinem Polizistenkollegen 10.000 Euro für das Mail. Es sollte weitreichende Folgen haben.
„Nina“ hatte auf eine von Firtash persönlich unterzeichnete Vollmacht bestanden – jenen Brief vom 12. Mai 2014, der einleitend im Mail erwähnt und diesem auch als Anhang beigefügt war. Firtash soll allerdings gezögert haben. Letztlich stellte er einem langjährigen engen Vertrauten die Vollmacht aus, in Kontakt mit den US-Behörden zu treten, wobei dieser von vier namentlich genannten Personen begleitet werden konnte.
Zwei davon waren die beiden deutschen Polizisten aus dem Umfeld von „Nina“, einer ein österreichischer Sicherheitsberater und einer ein US-Anwalt. Offenbar hatte man gedacht, Christina Wilkening würde die richtigen Leute kennen, um einen guten Kontakt herstellen zu können. Dass der deutsche Polizist einfach die Vollmacht mit einem Begleittext im mittleren Hauptschulenglisch an den amerikanischen Justizminister schicken würde, hat im Umfeld des Milliardärs wohl niemand geahnt.
Nach einer kritischen Rückfrage des US-Ministeriums beim offiziellen Anwaltsteam von Firtash beeilen sich die Berater des Milliardärs klarzustellen, wer wirklich für den Ukrainer sprechen darf – nämlich seine Rechtsvertreter. Die Behörden sind dennoch alarmiert. Als dann der Mail-Schreiber ein paar Wochen später ausgerechnet nach Chicago – den Ort der Firtash-Anklage – fliegt, lässt sich die Angelegenheit nicht mehr einfangen.
Nachrichtendienste mehrerer Länder werden eingeschaltet und die Personen auf der Vollmacht nach allen Regeln der Kunst durchleuchtet. „Ninas“ Netzwerk, das jahrelang funktioniert hatte und in zahlreiche Behörden – darunter auch das österreichische BVT und der deutsche BND – hineinreichte, war auf einmal mitten auf dem Radar.
Offensichtlich schritten die Ermittler jedoch nicht sofort ein. Sie ließen Wilkening noch fast zwei Jahre weiterwerken. Dabei gab es bereits Anfang 2015 in Deutschland amtliche Vorerhebungen gegen den E-Mail-Schreiber, der dabei zum Thema Firtash einvernommen wurde. Offenkundig wollte man noch mehr über das „Nina“-Netzwerk herausfinden. Wilkening wurde beschattet, ihr Telefon abgehört. So konnte festgestellt werden, was sie trieb und mit wem sie gerade zusammenarbeitete.
Öffentlich bekannt wurde die Affäre im April 2016. Aufgrund eines Rechtshilfeersuchens aus Deutschland durchsuchten die österreichischen Behörden die herrschaftliche Villa in Wien-Hietzing, in der Firtash residiert (Bild unten). Zur selben Zeit kam es auch in Deutschland zu Hausdurchsuchungen – und zur Festnahme von Wilkening und dem Kommissar.
Gegen Firtash selbst wurde in dieser Causa nicht ermittelt. Der Milliardär hat die Privatagentin angeblich niemals kennengelernt – obwohl sie sehr darauf gedrängt haben soll. Ihr Engagement umfasste auch Beratung und Informationsbeschaffung in Bezug auf Osteuropa. Diesbezüglich soll sie durchaus brauchbares Material geliefert haben. Fraglich erscheint, ob Wilkenings Aktivitäten das stolze Honorar von rund 700.000 Euro rechtfertigen.
Ein Mann wie Dmitry Firtash lebt in einer Welt, die sich in zwei Gruppen unterteilen lässt: Profiteure, die mit ihm Geld verdienen wollen, und Feinde. Hierzulande findet man vor allem Vertreter der ersteren Spezies. Wer die Beziehung zwischen dem Gas-Milliardär und Österreichs politischer und wirtschaftlicher Elite verstehen will, sollte einige Jahre zurückblicken.
Am 29. Juli 2004 schließt eine Schweizer Firma namens RosUkrEnergo AG mehrere Verträge mit dem staatlichen ukrainischen Gasversorger Naftogaz ab. Als Repräsentant der frisch gegründeten Schweizer Gashandelsfirma RosUkrEnergo unterschrieb nicht etwa ein gewiefter osteuropäischer Gashändler, sondern Wolfgang P., damals Vorstand der Raiffeisen Investment AG aus Wien:
Nach außen hin repräsentierte also Raiffeisen die RosUkrEnergo. Wer – außer dem 50-Prozent-Aktionär Gazprom – noch dahinterstand, blieb lange im Dunkeln.
Miteigentümer waren also Firtash mit 45 Prozent und ein weiterer ukrainischer Geschäftsmann namens Ivan Fursin mit 5 Prozent. Was 45 Prozent an der RosUkrEnergo wert waren, zeigt ein Blick ins Firmenbuch: Eine am 14. Dezember 2006 beschlossene Dividendenausschüttung der Schweizer Firma belief sich auf satte 887 Millionen Schweizer Franken. Bei der 50-Prozent-Holding von Firtash und Fursin landete die Hälfte: umgerechnet 279 Millionen Euro.
Fast zwei Jahre lang macht Raiffeisen dem ukrainischen Kunden Firtash die Mauer. Erst im April 2006 werden die wahren Eigentumsverhältnisse offengelegt. Raiffeisen-Banker Wolfgang P. wird dazu 2007 im Banken-Untersuchungsausschuss des Nationalrats befragt. Er sagt: „Wir waren von Anfang an damit beauftragt, die rechtliche, steuerliche und bankmäßige Organisation der RosUkrEnergo herzustellen und entsprechend westlicher Standards aufrechtzuerhalten.“
Ein zufälliges Detail am Rande: Die Vertrauensperson, von der sich Firtashs Banker Wolfgang P. in den U-Ausschuss begleiten ließ, war der Rechtsprofessor und Strafverteidiger Wolfgang Brandstetter. Dieser wurde bekanntermaßen später Justizminister. In seine Ära als Minister sollte das Auslieferungsansuchen gegen Firtash fallen. Die Frage der Auslieferung ist allerdings bis heute – also auch nach Ende der Ministerschaft Brandstetters – nicht endgültig geklärt.
Tatsächlich für Firtash aktiv wurde ein anderer ehemaliger Justizminister: Dieter Böhmdorfer, einst für die FPÖ in der Regierung, ist Teil des Anwaltsteams. Die PR-Agenden leitet der frühere Pressesprecher von Ex-ÖVP-Chef Josef Pröll. Im erweiterten Umfeld tauchte – zumindest früher – auch die eine oder andere Person mit guten Connections ins SPÖ-Lager auf. Insgesamt ergibt sich der Eindruck, dass man im Umfeld des Oligarchen nicht nur gut beraten, sondern auch gut vernetzt sein möchte.
Das Firtash-Lager hält die Anklage in den USA seit jeher für politisch motiviert. Eine Strategie, damit umzugehen, war, den Milliardär als möglichen Helfer für eine Lösung des Ukraine-Konflikts zu positionieren. Firtash finanzierte eine „Agentur für Modernisierung der Ukraine“ (AMU), die im März 2015 unter der Leitung des früheren Außenministers Michael Spindelegger ins Leben gerufen wurde und im September 2015 eine Reformagenda publizierte.
Mittlerweile gibt es den Verein praktisch nur noch auf dem Papier. Spindelegger gehört aber immer noch dem Vorstand an. Obwohl er längst einen neuen Job hat, wurde seine Vereinsfunktion im Juli 2017 für vier weitere Jahre verlängert.
Auf Anfrage von Addendum erklärt der Ex-Vizekanzler, die AMU setze aktuell „keinerlei“ Aktivitäten: „Sie hält ausschließlich die Rechte an der 2015 erstellten Reformagenda (…), weshalb der Verein aus Urheberrechtsgründen auch weiter aufrechterhalten wird.“ Einnahmen gebe es daraus keine. „Die besondere Relevanz für das Aufrechterhalten der Urheberrechte besteht darin, dass auch von staatlicher Seite der Ukraine Reformvorschläge erarbeitet werden und eine bloße Kopie ohne Hinweis auf die von AMU erarbeiteten Lösungsansätze vermieden werden soll.“ Spindelegger gibt an, selbst keinerlei Zahlungen aus der AMU zu erhalten.
Was die mögliche Auslieferung Firtashs an die USA betrifft, wartet der Oberste Gerichtshof (OGH) derzeit auf eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs in einer ähnlich gelagerten Causa. Dann entscheidet der OGH, ob er der – eigentlich bereits genehmigten – Auslieferung zustimmt.
In den USA ist seit Monaten eine Entscheidung offen, ob das Gericht in Chicago für den angeblichen Bestechungsfall in Indien überhaupt zuständig ist. Im September 2017 fand eine Anhörung statt. Dabei interessierte sich die Richterin mit Blick auf das Rohstoffprojekt, um das es in der Anklage geht, auch dafür, ob sogenannter Titan-Schwamm „schwammig“ sei. Ist er nicht. Manch anderes in der Firtash-Affäre aber schon.
Österreichische Konzerne und Behörden griffen viele Jahre auf die Dienste einer Berliner Nachrichtenhändlerin zurück, die in Deutschland mittlerweile in Strafhaft sitzt. Addendum hat dieses Sittenbild aufgearbeitet: