Die Souveränität eines Staates zeichnet sich durch zwei Komponenten aus: letztverbindliches und von keiner anderen Macht abgeleitetes Recht nach innen, rechtliche Weisungsfreiheit nach außen.
Das innerstaatliche Recht der Mitgliedstaaten der Europäischen Union leitet sich allerdings durchaus von europäischem Recht ab, die Europäische Union ist zur Setzung unmittelbar verbindlichen Rechts in den Mitgliedstaaten befugt. Außerdem agieren die Mitgliedstaaten nach außen nicht weisungsfrei, Verstöße gegen EU-Recht werden von der Europäischen Union geahndet. Ob also die Mitgliedstaaten, die in das rechtliche System der Europäischen Union eingegliedert wurden, noch als souverän im Sinne einer uneingeschränkten rechtlichen Handlungsfähigkeit nach innen und außen bezeichnet werden können, ist fragwürdig.
Verneint man die Frage, folgt daraus, dass Österreich seit 1995 kein Staat mehr ist. Aber: Will man die Beziehung zwischen der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten allein durch das traditionelle staatliche Souveränitätskonzept erklären, scheitert man schon an dem Umstand, dass die Europäische Union ein Rechtsgebilde sui generis ist, eine supranationale Organisation – per se überstaatlich. Die Europäische Union ist kein Staat. Ihr fehlen wesentliche Eigenschaften eines Staates: Sie besitzt keine umfassende Gebietshoheit, und sie ist ein Zusammenschluss der Mitgliedstaaten, nicht getragen von einem einheitlichen Unionsvolk.
Virulent wurde die Frage nach der etwaigen Staatlichkeit der EU in der Diskussion um den Vertrag über eine Verfassung für Europa. Eine Verfassung zu haben, zeichnet einen Staat aus. Und das war letztlich auch der Gedanke, mit dem sich einige Mitgliedstaaten nicht anfreunden konnten.
Der Europäische Rat einigte sich nach mehreren Anläufen im Jahr 2004 auf den Vertrag über eine Verfassung für Europa. Durch diesen Verfassungsvertrag sollte die Gesamtheit der in den letzten 50 Jahren geschlossenen Verträge, ausgenommen der Euratom-Vertrag, ersetzt werden; Europa sollte also eine gemeinsame Verfassung erhalten, die 2007 in Kraft treten sollte. Doch dazu kam es nicht. Frankreich und die Niederlande lehnten die Verfassung – im notwendigen Ratifizierungsprozess via Volksabstimmung – im Mai und Juni 2005 ab. Damit war das Vorhaben gescheitert, weil das Inkrafttreten an die Zustimmung aller Mitgliedstaaten gebunden war.
In weiteren Reformdialogen einigte man sich schließlich auf den Vertrag von Lissabon, der seit dem 1. Dezember 2009 in Kraft ist. Eine Verfassung, die die Europäische Union in einen staatsähnlichen Zustand versetzt hätte, wurde also von einigen Mitgliedstaaten abgelehnt; doch sieht man genau hin, ist leicht zu erkennen, dass einzig die Formulierung „Verfassung“ auf Unbehagen stieß. Dieser Begriff sollte nicht mehr verwendet werden, die wesentlichen Inhalte des Verfassungsentwurfs wurden allerdings übernommen. Entwickelt sich die Europäische Union daher ohnehin in Richtung staatliches Gebilde, nur dass man ihr dieses Etikett nicht geben will?
Für eine viel weitergehende europäische Integration spricht sich Ulrike Guérot aus. In ihrem Buch „Warum Europa eine Republik werden muss“ beschreibt sie das Verschwinden des Nationalstaats. Nicht der Nationalstaat, sondern vielmehr die Bürger selbst seien die Souveräne, die Europäische Union müsse den letzten Schritt der Integration tun und die Europäische Republik verwirklichen. Diese wäre im Sinne Guérots „die Föderation vieler regionaler Einheiten ohne nationale Zwischeninstanz“. Sie lehnt sowohl den europäischen Bundesstaat als auch den Staatenbund ab, weil in beiden Fällen die Souveränität beim Nationalstaat selbst erhalten bliebe.
Es wäre sinnvoll, nach dem jeweiligen Ort der Souveränität zu fragen, da die Voraussetzungen für demokratische Herrschaft, Identifikation und Solidarität im Staat wesentlich besser entwickelt sind als in der Europäischen Union, wie Dieter Grimm in seinem Buch „Europa ja – aber welches?“ konstatiert. Für ihn ist klar, dass die traditionellen Träger der Souveränität, die einzelnen Staaten, jedenfalls weiterhin bestehen, weil sie nach wie vor einen großen Teil ihrer Hoheitsrechte besitzen und das Monopol der staatlichen Zwangsgewalt nicht abgegeben haben.
Weil die EU eben keine verfassungsgebende Gewalt besitzt, wie das Scheitern des Vertrags über eine Verfassung für Europa veranschaulicht hat, ist sie in Bezug auf ihre eigene Rechtsgrundlage demnach nicht selbstbestimmt und damit nach Grimm nicht souverän. Jürgen Habermas vertritt in seiner „Verfassung Europas“ allerdings eine andere Theorie: die der dualen Souveränität. Demnach hat der Vertrag von Lissabon die verfassungsgebende Gewalt zwischen den Mitgliedstaaten und den Unionsbürgern aufgeteilt. Die Souveränität sei solcherart zwischen den verschiedenen Rollen ein und desselben Subjekts geteilt. Dass die demokratische Legitimierung in der EU schwach ausgebildet ist, gesteht auch Jürgen Habermas ein, weshalb er davon ausgeht, dass Mitgliedstaaten einen Anteil an der Souveränität behalten müssen.
In einer Zeit, in der nationalstaatliches Denken für die einen verstärkt an positiver Bedeutung gewinnt, während es von den anderen für engstirnig und nicht praktikabel gehalten wird, steht eine Entscheidung an: Wie die Europäische Union in Zukunft definiert wird, prägt ja im Umkehrschluss ihre Mitgliedstaaten entscheidend mit. Inzwischen kann man von einer geteilten beziehungsweise amputierten Souveränität sprechen. Dass die etwaige Staatlichkeit der Europäischen Union beziehungsweise ihre Entwicklung dorthin von vielen Seiten kritisch betrachtet wird, liegt an der dominanten Vorstellung der Staatsgewalt als zentraler und übergeordneter Vollstreckungsgewalt, also alleiniger Herrschaft, und an der Vorstellung eines einheitlichen Staatsvolkes.
Vielleicht liegt die Lösung darin, diese historisch gewachsene Vorstellung des Staats und dessen Souveränität fallen zu lassen und – auch in Hinblick auf die Europäische Union – tatsächlich neu zu definierende Maßstäbe anzulegen, da der Souveränitätsbegriff, der im Zuge der Staatenbildung im 16. Jahrhundert noch ein Schlüsselbegriff war, seine Beziehung zur Realität verloren hat. Willkommen in der Ära der Post-Souveränität.