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Der Staat und seine Aufgaben
25. Oktober 2017 Staat Lesezeit 6 min
Quo vadis, Staat? Was ist der Staat, was tut er, was soll er tun – und was nicht? Die Geschichte zeigt: Historisch waren Staatsaufgaben immer eng mit Kriegen verbunden. Erst seit Ende des Zweiten Weltkriegs dominiert in Europa der Gedanke des Wohlfahrtsstaats.
Dieser Artikel gehört zum Projekt Staat und ist Teil 4 einer 12-teiligen Recherche.
Bild: Philipp Horak | Addendum

Der Staat und seine Betätigungsfelder haben sich im Lauf der Zeit stark gewandelt. Seine antiken Erscheinungsformen lassen sich nur schwer mit dem heutigen Nationalstaat westlichen Musters vergleichen. Die griechische Polis war ein verhältnismäßig überschaubarer Zusammenschluss, der stellenweise eher an eine Großfamilie erinnert als an einen Staat. Der deutsche Verfassungsjurist Ernst-Wolfgang Böckenförde beschrieb sie als „Wehr-, Rechts-, Schutz-, geistige und Kulturgemeinschaft in einem“, die „auch das geistige, ethische, künstlerische, religiöse Leben, kurz alle Bereiche, in und an denen sich ein vollendetes gutes Leben als gemeinsames Leben der Einzelnen entfaltet“, umfasst.

Die moderne Staatstheorie betont die Rolle der effektiven Zentralgewalt als Garant von Sicherheit und Wohlstand. Ohne eine solche lebt jeder in ständiger Angst vor den anderen: Der Mensch ist dem Mensch ein Wolf (homo homini lupus), wie es in dem berühmten Diktum formuliert wurde. Als Ausweg aus diesem (Ur-)Zustand formulierte Thomas Hobbes seine berühmte Vertragstheorie: Die Menschen übertragen ihr ureigenes Recht zur Gewaltausübung beziehungsweise zur (Selbst-)Justiz an einen Souverän. Dieser garantiert ihnen im Gegenzug ihre Sicherheit. Nur unter dieser Bedingung ist wechselseitiges Vertrauen und damit Frieden möglich. Der Soziologe Norbert Elias bezeichnet diesen zivilisatorischen Fortschritt als „Kasernierung“ der Gewalt.

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Thomas Hobbes (1588–1679)
Wesentlicher Mitbegründer der modernen Staatstheorie, Autor des 1651 erschienenen Standardwerks „Leviathan“.

Der Staat, ein Kind des Kriegs?

Mit Entstehung des Gewaltmonopols und als Folge des Dreißigjährigen Kriegs begannen Staaten mit der Errichtung stehender Heere. Um ein solches zu erhalten, waren wiederum eine funktionierende Bürokratie und entsprechende Steuerleistungen notwendig. Je größer das Heer, desto größer der Beamtenapparat. Dazu passt auch die Beschreibung des Staats als Kind des Krieges: „War made the state and the state made war.“ (Charles Tilly)

Der französische Philosoph Michel Foucault betont dabei die Entstehung der Staatsräson: Die Wirtschaft wie auch die gesamte staatliche Verwaltung sind auf die (militärische) Wettbewerbsfähigkeit ausgerichtet. Um in der Zeit des europäischen Mächtegleichgewichts zu bestehen, brauchte es eine möglichst große, gesunde und produktive Bevölkerung. Dazu dienten etwa die Statistik als Schlüsselinstrument bei der Verwaltung und die ersten Volkszählungen.

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Michel Foucault (1926–1984)
Französischer Philosoph, Psychologe und Soziologe.

Die gute Polizei

Zentral ist dabei die Polizei. Damit war früher die staatliche Verwaltung als solche gemeint, nicht nur Polizisten und ihre Dienststellen: Die Gesamtheit von „Gesetzen und Regelungen, die das Innere eines Staates betreffen und die Kräftigung und Steigerung der Macht dieses Staates verfolgen und deren Ziel es ist, seine Kräfte richtig zu gebrauchen“ heißt es in einem Werk zu den „Grundsätzen der Policeywissenschaft“ von 1756. Die Aufgabengebiete der Polizei reichten äußerst weit: Von Gesundheit und Erziehung über Unterstützung für Arme bis zur Zuteilung von Arbeit, bis zu Wirtschafts- und Handelsregeln oder zum Ausgleich der Interessen von Gutsbesitzern und dem Rest der Bevölkerung. Das Glück des Einzelnen und das Staatsinteresse waren kein Widerspruch, ganz im Gegenteil.

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So lesen wir bei Claude Fleury, Erzieher von Ludwig XIV., folgende Umschreibung der Polizei und ihres Aufgabengebiets:
„Die Polizei ist die Gesamtheit der Interventionen und Mittel, die sicherstellen, dass das Leben, das Etwas-mehr-als-nur-leben, das Zusammenleben tatsächlich zur Bildung und Steigerung der Kräfte des Staates nützlich sein wird (…) aus dem Glück der Menschen soll der Nutzen für den Staat entstehen, aus dem Glück der Menschen soll die Kraft des Staates selbst entstehen.“

Die „gute Polizey“ ließ den Staat als Garant für Sicherheit, aber eben auch für Wohlfahrt auftreten. Im Endeffekt regelte die Polizei damit sämtliche Formen des menschlichen Zusammenlebens, ja überhaupt die Gesellschaft als Ganzes. Damit stellte sich auch die Notwendigkeit der Begrenzung und Kontrolle staatlicher Tätigkeit. Der Liberalismus und die Idee des Rechtsstaats sind letzten Endes Reaktionen auf den allumfassenden Regelungsanspruch des Polizeistaats.

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Der Staat sind wir

Parallel zum Krieg und zu innereuropäischer Konkurrenz als treibende Kraft für Staatswachstum etablierte sich insbesondere im 19. Jahrhundert die Idee des Wohlfahrts- beziehungsweise Sozialstaats.

Einen Meilenstein dabei markierte die Schaffung der staatlichen Arbeiterfürsorge unter Bismarck. Damit wurde aus Almosen ein gesetzlicher Anspruch. Bismarck wollte so den revolutionären (Arbeiter-)Bewegungen des 19. Jahrhunderts den Wind aus den Segeln nehmen. Der Staat trat so nicht als Vertreter der oberen Klassen, sondern als sozialer Dienstleister auf. Durch das allgemeine Wahlrecht und die Sozialgesetzgebung sollten Klassengegensätze aufgeweicht oder gar abgeschafft werden.

Mit Ende des Zweiten Weltkriegs hat der Gedanke des Wohlfahrtsstaats einen bis dahin unbekannten Stellenwert eingenommen. Das hat zwei Gründe: Zum einen sind der Krieg und der Gedanke des europäischen Mächtegleichgewichts als Regierungsparadigma verschwunden. Zum anderen tritt der Staat in Demokratien im Gegensatz zu anderen Herrschaftsformen nicht als fremde Macht auf. Die Bevölkerung, so das Postulat, regiert sich vielmehr selbst.

Nudging

Damit lässt sich theoretisch ein sehr weiter Einflussbereich des Staats legitimieren, der sich beispielsweise im Bereich der Gesundheitspolitik zeigt: In erster Linie können hier sanfte Mittel wie Nudging (gezielte, aber zwanglose Formen der Einflussnahme auf menschliches Verhalten), Aufklärungskampagnen, gezielte Förderungen oder die Steuerpolitik (beispielsweise die Begünstigung gesunder Nahrungsmittel) eingesetzt werden. Darüber hinaus können gesetzliche Regelungen erlassen werden – man denke an Rauchverbote.

Dabei spielen drei Gründe eine wesentliche Rolle: erstens die Notwendigkeit, die Kosten für das Sozialsystem möglichst gering zu halten. Zweitens der Schutz von anderen (bei Rauchverboten die Belastung für andere Gäste und des Personals). Und drittens der Schutz des Einzelnen vor sich selbst (etwa die 1976 eingeführte Gurtpflicht; angeschnallt sind die Überlebenschancen achtmal höher als ohne Gurt).

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Wozu Staat?

Die wichtigsten Erkenntnisse des Projekts:

  • Die Legitimität des Staats ist eng an das Vertrauen der Bürger in die Regierung gebunden.
  • Der Staat lenkt die Menschen nicht nur durch Gesetze und Verbote.
  • Persönliches Eigentum ist manchmal nur eine Fiktion.
  • Ziviler Ungehorsam: Oft verboten, manchmal geboten.
  • Sozialausgaben dominieren das Budget in Österreich.
  • Die EU ist kein Staat. Ob Österreich noch einer ist, ist die Frage.

Alle Artikel des Projekts

Der Steuerungsstaat

Der wohlfahrtsstaatliche Gedanke ist nicht der einzige Grund für das starke Anwachsen der Staatsaufgaben. Als letzte Phase dieser Entwicklung lässt sich mit dem Schweizer Soziologen Franz-Xaver Kaufmann vom „Steuerungsstaat“ sprechen. Das betrifft vor allem den (globalen) Umweltschutz und ganz allgemein die Prävention, die von der Verbrechensbekämpfung bis hin zur Wirtschaftspolitik reicht. Sozialpolitik beruht schließlich auf dem Gedanken, den sozialen Frieden zu wahren und durch Instrumente wie die Arbeitslosenversicherung oder die Mindestsicherung ein Abgleiten in die Kriminalität zu verhindern. Durch aktive Eingriffe in das Wirtschaftsleben sollen wiederum Rezessionen verhindert oder zumindest abgeschwächt werden. Durch die Globalisierung ist es auf diesem Gebiet zu einem Souveränitätsverlust gekommen. Auf internationaler Ebene besteht mit der WTO ein dichtes Netzwerk unterschiedlicher Regeln. Dazu haben sich Staaten zu regionalen Wirtschaftsblöcken zusammengeschlossen. Die EU ist dabei am weitesten gegangen – bei der WTO spricht die EU mit einer Stimme, vertreten durch die Europäische Kommission. Doch auch in anderen Regionen haben sich unterschiedliche Freihandelszonen herausgebildet – man denke an das nordamerikanische Freihandelsabkommen NAFTA oder Mercosur in Südamerika (Mercado Común del Sur, der „gemeinsame Markt des Südens“).

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Entgrenzte Staatlichkeit?

Der Staat und sein Auftreten haben sich im Laufe der Zeit maßgeblich verändert. In Europa ist der Krieg nicht mehr die treibende Kraft für staatliches Handeln. An ihre Stelle sind das sozialstaatliche Prinzip und der Gedanke der umfassenden Prävention getreten.

Heute gibt es wohl kaum einen Bereich, der nicht in irgendeiner Form dem staatlichen Einfluss unterliegt. Diese noch vor Jahrzehnten undenkbare Handlungsfülle wurde durch die Demokratie und ihr Postulat der Selbstregierung ermöglicht. Dementsprechend befindet sich der Staat auch nicht auf dem Rückzug. Vielmehr hat sich sein Erscheinungsbild gewandelt: Immer öfter kontrolliert und reguliert er, anstatt selbst zu handeln. Das Ausmaß seiner Aufgaben und Regelungsbereiche ist allerdings nicht kleiner geworden – ganz im Gegenteil. 

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