Die Deutschen haben laxe Gesetze, verschärft durch strenge Beamte. Die Österreicher haben strenge Gesetze, entschärft durch laxe Beamte.“ Kaum ein Spruch bringt das Verhältnis der beiden Nationen zu Recht und Ordnung besser auf den Punkt als dieser; dass „Dienst nach Vorschrift“ (wie ihn etwa die Angestellten der Post gegen deren fortschreitende Privatisierung seit Ende der 90er Jahre immer wieder angetreten haben) so ziemlich das Schlimmste ist, was ein öffentlich Bediensteter seinen Vorgesetzten androhen kann, versinnbildlicht, wie sehr der Alltag hierzulande davon abhängt, ob Behörden und Ämter ihre Vorschriften auf Punkt und Beistrich ausleben – oder eben mit Augenmaß entscheiden, wann und inwiefern sie die Durchgriffsmöglichkeiten, die ihnen die Gesetze bieten, voll ausschöpfen, und wann sie darauf verzichten können.
Das ist zum einen natürlich häufig eine Frage der Ressourcen – beispielsweise wäre es viel zu aufwendig, sämtliche Straßen 24 Stunden täglich durchgehend zu überwachen, um die Einhaltung von Tempolimits zu kontrollieren. Die Polizei verfügt noch nicht einmal über genügend Radarmessgeräte, um sämtliche Radarkästen durchgängig zu bestücken, geschweige denn über genügend Budget, um mehr als punktuelle Kontrollen durchzuführen. Das ist aber auch gar nicht nötig, wie die Praxis – die Zahl der Toten sinkt seit Jahrzehnten kontinuierlich – zeigt: Es reicht schon zu wissen, dass stichprobenartig Kontrollen durchgeführt werden, um so viel Rechtstreue herzustellen, dass die Straßen in akzeptablem Ausmaß sicher sind.
Der Gesetzgeber weiß dabei ziemlich genau um die feine Balance zwischen Aufwand und Nutzen der Durchsetzung staatlicher Regeln: Durch unsere ganze Rechtsordnung ziehen sich Regelungen, dank derer Beamte auch einmal ganz legal „die Augen zudrücken“ können, wenn dem Zweck des Gesetzes damit besser gedient ist: Von einer Organstrafverfügung nach § 50 Verwaltungsstrafgesetz kann ein Polizist etwa absehen, wenn „die Bedeutung des strafrechtlich geschützten Rechtsgutes und die Intensität seiner Beeinträchtigung durch die Tat und das Verschulden des Beanstandeten gering sind“ – etwa muss der Jungvater, der sein schreiendes Kind auf dem Rücksitz im Halteverbot tröstet, nicht unbedingt die Härte des Gesetzes samt Geldstrafe erfahren; der Beamte darf allerdings den Zeigefinger erheben: „Das Organ kann jedoch den Beanstandeten in einem solchen Fall in geeigneter Weise auf die Rechtswidrigkeit seines Verhaltens aufmerksam machen.“
Ein Beispiel, in dem es eine besondere Balance zwischen Recht und Rechtsdurchsetzung gibt, ist der Bereich, den praktisch jeder kennt, den aber kaum jemand anspricht: die Schattenwirtschaft, vulgo „Pfusch“.
Wie würde sich der Alltag zigtausender Menschen verändern, wenn auf diesem Gebiet totale Gesetzestreue herrschte? Ein Gedankenspiel: Wie viel weniger Putzfrauen in privaten Wohnungen würde es geben, wenn jeder Auftraggeber dafür die vollen Abgaben entrichtete? – Die Idee, Steuern und Lohnnebenkosten zu vereinfachen und per „Dienstleistungsscheck“ einfacher abzuwickeln, muss man wohl angesichts dessen bescheidener Bilanz nach zehn Jahren als gefloppt betrachten.
Wie groß wäre der Verdienstentgang für die Putzfrau, wenn es die „Schattenwirtschaft“ nicht gäbe?
Wie viele Häuser weniger würden gebaut, wenn alle Firmen offiziell abrechneten? Wie viele Familien wären weit weniger mobil, wenn sie immer den vollen Werkstättenpreis entrichten müssten, wenn eine Reparatur fällig ist?
Der Wohlstand in Österreich würde deutlich sinken, gäbe es den „Pfusch“ nicht, ist sich Schattenwirtschafts-Experte Friedrich Schneider von der JKU Linz sicher: „Jedes zweite Einfamilienhaus im Mühlviertel gäbe es dann nicht.“
Schneider argumentiert, dass die Sichtweise, Pfusch sei ein Verbrechen, das hart bestraft werden müsse, wenig sinnvoll sei: Wolle man den – in Österreich ohnehin geringen – Anteil der Schattenwirtschaft am BIP reduzieren, sollte man politisch eher Anreize setzen, den legalen Weg zu gehen – wie dies beispielsweise mit dem jüngst ausgelaufenen Handwerkerbonus versucht wurde. Oder man könnte generell die Lohnnebenkosten senken. Würde der Staat stattdessen auf intensivste Kontrolle setzen, würde er unterm Strich wohl weniger einnehmen, als wenn er nichts täte. Schneiders Rechnungen zufolge würden von den an die 20 Milliarden Euro, die die Schattenwirtschaft in Österreichs BIP ausmacht, rund 40 Prozent gar nicht mehr erbracht, der Wohlstand würde insgesamt sinken.
Was passiert, wenn der Staat justament seine Regeln durchsetzen will, ohne sich vorher die Konsequenzen bewusst zu machen, sieht man an den Arbeitszeitregeln für Ärzte: Ab 2015 mussten Österreichs Spitäler, der EU-Arbeitszeitrichtlinie folgend, die Maximalarbeitszeit ihrer Mediziner mehrstufig von bis zu 60 auf 48 Stunden reduzieren. Die Folge: Besonders in der Bundeshauptstadt kam es zu viel längeren Wartezeiten für Patienten, schlechter besetzten Notdiensten und Unzufriedenheit in der Ärzteschaft.
Erst im Juli 2017 hat man schließlich eine Lösung gefunden: An Universitätskliniken wie dem AKH sind ab 2018 wieder Arbeitszeiten von bis zu 60 Stunden möglich, wenn der über die 48 Stunden hinausgehende Anteil für „Forschung und Lehre“ verwendet wird.
Ob das besonders scharf kontrolliert wird, oder ob der Staat da im Sinne der Gesundheitsversorgung wieder ein Auge zudrücken wird, bleibt abzuwarten.