Der Staat schützt die Bürger nicht nur voreinander, sondern auch jeden vor sich selbst. Das geht letzten Endes sehr weit. Die meisten Drogen sind verboten, der Handel mit ihnen wird streng verfolgt. Wer Auto fährt, muss sich anschnallen. Bei roten Ampeln muss man stehen bleiben – selbst um vier Uhr Früh und auch dann, wenn weit und breit kein Fahrzeug in Sicht ist. In Lokalen darf bald nicht mehr geraucht werden. Wer ein Restaurant betreibt, muss unzählige – bisweilen absurd anmutende – Vorschriften einhalten.
Das ist nur eine kleine Auswahl an Regeln, an die wir uns zu halten haben. Darüber, wieso das so ist, gibt es eine Reihe von Theorien. Sind sie plausibel?
Eine der bedeutendsten Begründungen zu dieser Frage betont die Nahebeziehung von Mitgliedern derselben Gemeinschaft: Man spricht von assoziativen Verpflichtungen: Menschen sind zur Einhaltung von Gesetzen verpflichtet, weil sie sich mit dem Staat, seinen Gesetzen und der Regierung identifizieren: „Der Staat ist ein Identifikationsobjekt. Menschen halten sich an seine Regeln, unterstützen seine Institutionen und sind bereit, ihn zu verteidigen, weil sie ihn als ihren Staat ansehen“ liest man bei der Philosophin und Politikerin Yael Tamir in ihrem Buch „Liberal Nationalism“.
Die Zusammengehörigkeit ist also für sich genommen bereits ausreichend – problematisch daran ist, dass damit auch Clanstrukturen oder Mafia-Organisationen gerechtfertigt werden: Wieso geht der Staat als übergeordnete Einheit so vor kleinere Formen der Zusammengehörigkeit? Um diesem Dilemma zu entgehen, braucht es eine Einschränkung. Dem US-amerikanischen Philosophen Ronald Dworkin zufolge kann nur eine „genuine Gemeinschaft“ (true community) diesen Anspruch zur Einhaltung erheben.
Eine solche liegt nur dann vor, wenn die Verhaltensnormen für alle Mitglieder gleichermaßen gelten. Mafiöse Strukturen oder Unrechtsregimes genießen daher keinen moralischen Anspruch auf Einhaltung ihrer Regeln. Je weiter eine Regierung sich von der Bevölkerung entfremdet, desto mehr bröckelt auch die Legitimität ihrer Regeln.
Eine weitere Theorie stellt auf die menschliche Kooperation innerhalb eines Staates ab. Dadurch entstehen wechselseitige Verpflichtungen. Eine solche Verpflichtung ergibt sich auch gegenüber dem Staat. Wenn er den Bürgern etwas Gutes tut, erhält er im Gegenzug das Recht auf Einhaltung seiner Bestimmungen. Locke und Platon sprechen vom hypothetischen Willen aller Mitglieder einer Gemeinschaft, sich ihren Regeln zu unterwerfen.
Für den großen US-amerikanischen Rechtstheoretiker H.L.A. Hart begründet überhaupt bereits der bloße Zusammenschluss von Menschen zu einer staatlichen Gemeinschaft eine Mindestverpflichtung zur Einhaltung ihrer Regeln.
Auch dagegen bestehen manifeste theoretische Einwände. Libertäre Rechts- und Staatstheoretiker wie Hans-Hermann Hoppe gehen dabei besonders weit. Hoppe zufolge ist der Staat schlimmer als ein Wegelagerer.
Ein Wegelagerer lasse einen wenigstens in Ruhe, nachdem der Raub abgeschlossen wurde. Der Staat hingegen belästige und bevormunde den Bürger fortwährend, unabhängig davon, ob dieser das wolle oder nicht: indem er einem die eigene Lebensführung vorschreibe und sich als Gegenleistung für Sozialleistungen tief in das Privatleben hineinschraube. So dürfe man nicht nur aus kulturellen Gründen nur einen Ehepartner haben, sondern auch wegen Sozialleistungen wie der Witwen-/Witwerpension. Drogen seien einerseits zum Schutz der (potenziellen) Konsumenten und (potenziellen) Suchterkrankten verboten und andererseits wegen der gesellschaftlichen Folgekosten – von der Beschaffungskriminalität über die Auswirkungen auf das Umfeld der Betroffenen bis hin zu den Behandlungskosten. Selbiges gelte für die Rauchergesetzgebung: Sie diene nicht nur dem Selbstschutz und dem Schutz von anderen (etwa des Servierpersonals in Lokalen und Restaurants), sondern auch, um das Krebsrisiko und allgemein die von Rauchern verursachten Belastungen des Gesundheitswesens gering zu halten.
Die Demokratie nimmt in diesen Dingen eine Sonderrolle ein. Sie folgt schließlich dem Gedanken, dass sich die Bevölkerung durch die Wahl von Vertretern ihre Gesetze gewissermaßen selbst gibt. Der Bürger wird zum „Mit-Gesetzgeber“. Durch die Teilnahme an Wahlen akzeptiert er, sich den Wahlsiegern beziehungsweise der neu gebildeten Regierung zu unterwerfen – auch wenn er sie nicht gewählt hat. Dasselbe gilt auch für Nichtwähler – sie haben durch ihre Abwesenheit akzeptiert, dass andere über sie bestimmen.
Dem deutschen Bundesverfassungsgericht zufolge verlangt die „verfassungsrechtlich notwendige demokratische Legitimation eine ununterbrochene Legitimationskette vom Volk zu den mit staatlichen Aufgaben betrauten Organen und Amtswaltern“.
Diese Legitimationskette kann bisweilen allerdings sehr dünn werden. Das geschieht, wenn die Gesetzgebung auf eine höhere Ebene übertragen wird. Damit meint man internationale Organisationen, allen voran die EU. Staaten können dort sogar überstimmt und gegen ihren Willen zu etwas verpflichtet werden. Die faktische Teilhabe des einzelnen Bürgers ist letztlich äußerst gering. Der EU ist es seit Jahrzehnten nicht gelungen, dieses „demokratische Defizit“ zu überwinden.
Abgesehen von der internationalen Dimension kann die legitimatorische Kraft der Demokratie auch innerhalb eines Staates an ihre Grenzen stoßen.
Der deutsche Philosoph Karl Jaspers bemängelte bereits in den 1960er Jahren die Übermacht der Parteien, die gewissermaßen einen Staat im Staat gebildet haben.
Dabei sprach er von einer „Parteienoligarchie“. Dort seien die Bürger nicht „Träger des Staates“, wie es im deutschen Grundgesetz heißt, sondern „Untertanen“, die alle vier Jahre eine „ihnen vorgelegte Liste“ wählen, ohne zu wissen, was sich dahinter verbirgt: „Sie haben sich zu fügen. Zunächst den Vorschlägen der Parteien, dann der Obrigkeit, die sich für ihre Autorität auf das Volk beruft, das sie gewählt haben.“
Wahlen alleine sind keine Garantie für die Legitimität von Gesetzen. Wenn Beobachter den „fairen und freien“ Ablauf von Wahlen feststellen, heißt das oft nicht mehr, als dass die registrierten Wähler wählen durften und dass ihre Stimmen korrekt gezählt wurden. Demokratie verlangt jedoch mehr: Die Opposition muss ungehindert Kandidaten aufstellen und wahlwerben dürfen, es braucht eine offene Debatte und den gleichberechtigten Zugang zu den Medien und zum öffentlichen Raum.
Außerdem gilt die Herrschaft der Gesetze (Rule of Law), nicht von Einzelpersonen. Etwaige Eingriffe in die Rechte der Bürger müssen also auf Basis einer rechtlichen Grundlage erfolgen. Die Allgemeinheit muss an die Legitimität der gesamten (staatlichen) Ordnung glauben. Das erfordert mehr als die bloße Stimmabgabe. Willkür und Sonderprivilegien für bestimmte Gruppen lassen den Staat zu einer fremden Macht werden. Die Identifikation mit dem Staat ist dann nicht mehr gegeben, er wird vielmehr zum Selbstzweck für die Herrschenden. „Nimm das Recht weg – was ist dann ein Staat noch anderes als eine große Räuberbande“ heißt es schon bei Augustinus.
In wesentlichen Bereichen schützt uns der Staat vor unserem selbstschädigenden Verhalten. Warum hält er uns nicht von der Nikotinsucht fern?
Um unser Verhalten in gesellschaftlich erwünschte Richtungen zu lenken, setzt der Staat oft auf Ge- und Verbote: Gurtenpflicht, das Verbot von bestimmten Suchtmitteln oder das Gebot zu elementarer Schulbildung. Bei einem schadhaften Verhalten, das in der Bevölkerung weit verbreitet ist, lässt er allerdings Milde walten: dem Rauchen von Tabak. In Anbetracht der bekannten gesundheitlichen Folgen des Rauchens und strengen Verboten bei anderen Suchtmitteln mag die Zurückhaltung zunächst nicht erklärbar scheinen. Wahlweise wird mit dem harten Eingriff in die persönliche Freiheit argumentiert, seltener begegnet man der Behauptung, dass der Staat im Endeffekt finanziell von Rauchern profitiert. Diese Kontroverse stieß der tschechische Präsident Miloš Zeman – selbst bekennender Raucher – im Jahr 2001 an:
„Als Raucher unterstütze ich die Staatsfinanzen, denn in der Tschechischen Republik zahlen wir Steuern auf Tabak. Außerdem sterben Raucher früher, und der Staat muss sich nicht im Alter um sie kümmern.“
Die Nikotinsucht ist mit weitreichenden gesellschaftlichen Kosten verbunden. In erster Linie werden meist die zusätzlichen Gesundheitsausgaben angeführt, die durch Folgeerkrankungen entstehen. Hinzu kommen reduzierte Produktivität, vermehrte Krankenstände, Arbeitsunfähigkeit und der Wert des Menschenlebens an sich. Auf der anderen Seite ist das Suchtverhalten eine lukrative Einnahmequelle für den Staat. Die Einnahmen aus der Tabaksteuer beliefen sich für Österreich im Jahr 2016 auf rund 1,8 Milliarden Euro – eine nicht unwichtige Einnahmequelle. Außerdem ist davon auszugehen, dass der Staat Rauchern durch ihr früheres Ableben durchschnittlich weniger Pension auszahlen muss. In Anbetracht der Tatsache, dass Österreich im internationalen Vergleich viel für Pensionen ausgibt und ein relativ niedriges Pensionsantrittsalter hat, ist dies kein zu vernachlässigender Faktor.
Viele Studien kommen zu dem Ergebnis, dass Rauchen der gesamten Wirtschaft mehr schadet als nützt, wenn man sämtliche Kosten einbezieht. Für Österreich wurde eine solche Berechnung im Jahr 2008 vom IHS durchgeführt. Demnach würde ein durchschnittlicher Raucher mehr an Kosten für den Staat aufwerfen, als durch Tabaksteuern und nicht zu bezahlende Pensionen an Nutzen gegenüberstehen. Nicht zuletzt wandelt sich die Bilanz zu Ungunsten der Raucher, weil bei gesundheitsökonomischen Studien ein Wert für das Menschenleben veranschlagt wird. Eine im Jahr 2012 publizierte finnische Studie etwa kommt zu der Erkenntnis, dass der Staat – rein fiskalisch betrachtet – von den Rauchern profitiert. Aufgrund verschiedener methodischer Ansätze und unterschiedlicher Sozial- und Steuersysteme können diese Erkenntnisse nicht direkt eins zu eins auf Österreich umgelegt werden.
Im Hinblick auf die meist negativen Gesamtwirkungen stellt sich die Frage, warum der Staat da nicht stärker interveniert. Einen möglichen Erklärungsansatz bietet die zeitlich verzögerte Wirkung eines kompletten Verbots. In diesem Fall würden zunächst Mindereinnahmen anfallen. Das Tabaksteueraufkommen würde als Finanzierungsquelle des Staates verschwinden, und Trafikanten würden unter starken Umsatzeinbußen leiden. Die gesundheitlichen Kosten würden aber erst langfristig sinken. Schließlich kann ein Tabakverbot nicht plötzlich langjährig aufgebaute negative Gesundheitsfolgen beseitigen. Schon allein deshalb hat der Staat ein Interesse daran, eine Entwöhnung vom Rauchen schleichend durchzuführen. Stufenweise Erhöhungen der Tabaksteuer zeigten sich bisher in Österreich nur bedingt wirksam, um die Anzahl der Raucher zu reduzieren. Hinzu kommt, dass sie potenziell die Bilanz des Rauchers hin zum Nettozahler ausdehnen – und damit wiederum dem Staat eine härtere Vorgehensweise gegen das Rauchen weniger schmackhaft machen. Eine für den einzelnen Raucher finanziell wirklich deutlich spürbare Erhöhung der Tabaksteuer mit dem Ziel, damit eine hohe Entwöhnungsrate zu erreichen, wurde noch nicht versucht.
Wie steht das Gesundheitsministerium zu diesem Thema? Insgesamt hält es auch im Jahr 2017 an der Ansicht des IHS fest, dass die gesamten volkswirtschaftlichen Kosten des Rauchens höher sind als die Einnahmen der etwaigen Steuern und dem Wegfall von Pensionszahlungen. Man verweist auf die Möglichkeit der Reduzierung des Rauchens mit sanfteren Mitteln als Verboten und einer Anhebung der Tabaksteuer. So setzt man auf effektive Kontrollen des Nichtraucherschutzes, Präventionsmaßnahmen, Werbeverbote und Unterstützung in der Raucherentwöhnung. Ob die Kosten des Rauchens nun die Einnahmen übersteigen oder nicht, spielt womöglich nur eine untergeordnete Rolle. Die kulturelle Verwurzelung dieser Droge macht es sicher schwer, mit härteren Maßnahmen vorzugehen. Schließlich hält das BMGF fest: „In der Gesundheitspolitik geht es freilich um mehr als nur den Kostenfaktor.“