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Wenn uns der Staat manipuliert
23. Oktober 2017 Staat Lesezeit 8 min
Gesetze sind nur eine Möglichkeit, unser Verhalten zu beeinflussen. Der Staat kann die Bürger auf viele weitere Arten in eine gewünschte Richtung lenken. Die Frage ist nur, ob er das auch tun sollte.
Dieser Artikel gehört zum Projekt Staat und ist Teil 1 einer 12-teiligen Recherche.
Bild: Philipp Horak | Addendum

Spenden an den Tiergarten Schönbrunn kann man seit 2007 nicht mehr von der Steuer absetzen; Spenden ans Rote Kreuz hingegen schon. Warum manche Organisationen durch diese Spendenabsetzbarkeit staatlich gefördert werden und andere nicht, ist allerdings alles andere als transparent.

Im Grunde könnte der Staat die Organisationen, die er damit begünstigen will, auch selbst direkt (stärker) fördern. Warum will der Staat aber, dass wir selbst spenden? Möchte er uns damit ein Gefühl von Entscheidungsfreiheit geben? Wenn ja, warum wird diese Freiheit auf wenige Organisationen beschränkt?

Beeinflussung von oben

Werbung ist manipulativ, und die Gesellschaft hat seit langem akzeptiert, dass Unternehmen innerhalb bestimmter Grenzen versuchen, durch sie unsere Entscheidungen zu beeinflussen. Aber darf auch der Staat versuchen, unseren freien Willen zu beeinflussen?

Es ist eine interessante Diskussion, die durch den soeben an Richard Thaler, einen der Autoren der Nudging“-Theorie, verliehenen „Wirtschaftsnobelpreis“ besondere Aktualität gewonnen hat.

Denn selbst wenn wir voraussetzen, dass der Staat mit seinen Gewalten Legislative, Exekutive und Judikative unmittelbar in die Freiheit der Einzelnen eingreifen darf, um unser Zusammenleben zu regeln, gibt es eine Grauzone, in der er den Bürger mal bewusst, mal unterbewusst bevormundet.

Im täglichen Leben schafft der Staat etwa Bedingungen, die den Bürger faktisch lenken. Unsere Kinder besuchen zumeist nicht erst im verpflichtenden letzten Jahr den Kindergarten. Der Staat forciert diese Form der frühkindlichen Betreuung – könnte aber theoretisch ebenso alternative Formen anbieten oder das Kinderbetreuungsgeld erhöhen oder für einen längeren Zeitraum gewähren. Der Staat, der sich seinen Willen politisch gebildet hat, möchte aber, dass Mütter und Väter bald nach der Geburt des Kindes wieder arbeiten und schubst sie via Ende des Kinderbetreuungsgeldes sanft Richtung Kindergarten ab drei Jahren.

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Unter Nudging versteht man gezielte, aber zwanglose Formen der Einflussnahme auf menschliches Verhalten. Das Buch von Richard Thaler und Cass Sunstein – „Nudge: Improving Decisions About Health, Wealth, and Happiness“ – erschien 2008.

Die „Verachtung für den Bürger“

Der deutsche Philosoph und Managementberater Reinhard Sprenger unterstellt dem Staat, dass er auf eine weitgehende Determinierung des Bürgers aus sei. Er sieht eine „Melange aus Misstrauen und Verachtung des Staates gegenüber dem Bürger, der offenbar nicht in der Lage ist, sein Leben selbst zu regeln.“ Der Staat wisse besser, was gut für den Bürger ist, und wolle die eigene Idee vom guten Leben durchsetzen, indem der Mensch verändert, verbessert und veredelt wird. Dabei wird das Wollen des Bürgers durch ein Sollen ersetzt, und am Ende darf er „nicht einmal sterben, wie er will“.

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Reinhard K. Sprenger (geboren 1953 in Essen)
Philosoph, Betriebswirt, Unternehmensberater
Lehrbeauftragter an verschiedenen deutschen Universitäten. Als Autor von Managementliteratur für Führungskräfte stellt er den Menschen in den Mittelpunkt.

Der Staat sorgt sich aber nicht nur um unsere Ausbildung und unsere Arbeitsplätze, sondern auch um unsere Gesundheit und finanzielle Sicherheit. Eine Krankenversicherung ist in Österreich ebenso vorgeschrieben wie etwa eine Haftpflichtversicherung bei der Benützung eines Kraftfahrzeugs. Eigene Risikoübernahme ist in diesem Bereich nicht vorgesehen. Und wenn wir in manchen Bereichen nicht ausreichend auf unsere Sicherheit achten, ahndet dies der Staat durch entsprechende Strafen – beispielsweise bei Verstößen gegen die Helmpflicht oder die Gurtpflicht im Straßenverkehr.

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Nudging – die sanfte Manipulation

Es geht aber auch sanfter, wie eben der heurige Wirtschaftsnobelpreisträger gezeigt hat: Die „Nudge“-Theorie geht auf Thaler und Cass Sunstein zurück. Ihnen zufolge treffen wir Menschen trotz unserer Mündigkeit und Aufgeklärtheit oftmals die falschen Entscheidungen: Wir ernähren uns zu ungesund, rauchen, trinken Alkohol, treiben zu wenig Sport und sorgen nicht ausreichend für die Pension vor.

Dieses Verhalten kann durch „Nudges“ (einen kleinen Schubs) positiv – im Sinne von „in die richtige Richtung“ – beeinflusst werden, ohne dass Zwang oder Druck ausgeübt wird.

Beispielsweises sterben durch Zigaretten und Alkohol jährlich hunderttausende Menschen. Ebenso beeinträchtigen falsche Ernährung und Übergewicht die Gesundheit. Dies führt zu dem Schluss, dass die Menschen offensichtlich nicht immer das Richtige für ihr eigenes Wohlergehen tun. Und da stellt sich nun die Frage, ob der Staat den Bürger lenken oder tatsächlich frei entscheiden lassen soll, um das Verhalten zu dem zu korrigieren, was Gesundheit und Wohlergehen nützt.

Tu, was wir wollen

Tut er das, etwa durch kleine „Nudges“, spricht man vom staatlichen oder libertären Paternalismus. Die Theorie geht auf Milton Friedman zurück, der meinte, dass libertäre Paternalisten wollen, dass die Leute frei sind zu entscheiden. Libertär ist also im Sinne von Entscheidungsfreiheit zu verstehen. Paternalismus bedeutet in diesem Zusammenhang, dass es für sogenannte „Entscheidungsarchitekten“ (Menschen, die die Macht im Sinne von Möglichkeit haben) legitim ist, das Verhalten der Menschen zu beeinflussen, um ihr Leben länger, gesünder und besser zu machen.

Umgelegt auf den Staat, sagen Thaler und Sunstein, sollen „Behörden und Regierungen bewusst versuchen, die Entscheidungen der Menschen so zu lenken, dass sie hinterher besser dastehen“. Was heißt in diesem Zusammenhang „besser“? Als Maßstab wird in der Theorie der eigene Maßstab der Bürger angesetzt. Sie treten dabei aber nicht für mehr staatliche Vorgaben ein, sondern lediglich für bessere.

Praktisch gesprochen, soll durch das Nudging ein ähnliches Verhalten erreicht werden, wie man es sonst durch Gesetze und Verbote erzielen würde.

In den USA und in Großbritannien stupsen die Regierungen ihre Bürger etwa zum Stromsparen und zur Steuerehrlichkeit. Der anonymisierte Stromverbrauch von Nachbarhaushalten auf der Abrechnung und ein Belohnungssmiley für unterdurchschnittlichen Verbrauch wirkten wahre Wunder; Großbritannien verbuchte ein Mehr an Steuereinnahmen, weil man auf dem Mahnbescheid die Steuerehrlichkeit anderer Einwohner erwähnte.

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Ich gebe, damit du gibst

Die Kritik daran ist mannigfaltig: Ist so subtile Beeinflussung denn ebenso transparent wie ein Gesetz oder eher ein bewusst manipulatives Konzept wie Werbung?

In Österreich ist die Praxis des „Nudging“ bisher doch deutlich greifbarer, zumeist nämlich mit finanziellen Anreizen verbunden: Rund fünf Millionen Menschen in Österreich haben etwa einen Bausparvertrag abgeschlossen. Sie könnten das Geld auch auf ein Sparbuch legen oder in Aktien investieren. Der Staat findet einen Bausparvertrag aber offensichtlich gut und fördert ihn durch einen jährlichen staatlichen Bonus.

Wie schafft es der Staat, die private Pensionsvorsorge zu forcieren? Ganz einfach: durch eine steuerlich begünstigte Prämie, um die zweite Säule der Altersvorsorge zu stärken. Wenn dem Staat die finanzielle Absicherung der Bürger im Alter so wichtig ist, könnte er denselben Betrag natürlich auch direkt auf alle individuellen Pensionskonten einzahlen. Er tut es aber nicht, sondern ermuntert die Bürger, selbst vorzusorgen – und gibt ihnen dafür ein finanzielles Zuckerl.

Ebenso ist es bei der Kinderbetreuung, Fortbildungskosten und ähnlichen Bereichen, die steuerlich begünstigt sind.

Suggerierte Freiheit

Aber wer legt eigentlich fest, welche Ausgaben steuerlich absetzbar sind? Und warum gerade diese (und nicht andere)? Und warum in dieser Höhe?

Warum sind etwa die Kosten für Kinderbetreuung nur (noch) durch pädagogisch qualifizierte Personen (und nicht mehr durch die Oma) absetzbar? Warum liegt die Grenze der Absetzbarkeit bei 2.300 Euro und nicht etwa bei 2.400 oder 2.200? Oder warum sind Ausgaben für Kirchenbeiträge genau bis 400 Euro absetzbar?

Die Antwort des Finanzministeriums ist dazu ebenso klar wie kurz: Dies alles war eine Entscheidung des Gesetzgebers. Aber auf welcher Basis trifft der Gesetzgeber diese Entscheidungen? Was suggeriert er uns damit? Möchte der Staat vermitteln, was gut und richtig ist? Und wie steht es dabei dann um die Entscheidungsfreiheit des Bürgers?

Ob mit all diesen Dingen dem Bürger Selbstständigkeit suggeriert wird oder er unterbewusst zu einem beabsichtigten Wohlverhalten hingeleitet wird, ist eine interessante Frage.

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Die Sicht der Parteien

Wie denken die österreichischen Parteien über die Freiheit der Menschen und das Verhältnis zwischen Bürger und Staat?

Aus dem Parteiprogramm der ÖVP 2015

Jeder Mensch ist eine freie und deshalb auch für sein Handeln verantwortliche Person. Freiheit bedeutet Selbstbestimmung, die sich auf das Gewissen und die Vernunft jedes Einzelnen stützt. Freiheit entfaltet sich in Gemeinschaft: Die Freiheit des einen endet dort, wo die Freiheit des anderen beginnt. Die wichtigste Aufgabe des liberalen Rechtsstaates ist es, die Freiheit des Menschen zu schützen. Wir treten gegen jede Form staatlicher Bevormundung ein.

Link zum Parteiprogramm

Aus dem Parteiprogramm der SPÖ 1998

Der Staat hat für den Interessensausgleich in der Gesellschaft zu sorgen, um den sozialen Zusammenhalt und die soziale Sicherheit und damit das friedliche Zusammenleben der Bürgerinnen und Bürger zu gewährleisten.
[…]
Wir sehen aber ebenso klar die Gefahr eines Übermaßes an Regulierung und Bürokratie, das die Menschen in ihrer Freiheit einengt statt ihnen zu helfen. Wir glauben, dass der Weg zu einem zukunftsorientierten Staatswesen nicht von mehr oder weniger Regeln, sondern von besseren und sinnvollen Regeln bestimmt wird.

Link zum Parteiprogramm

Aus dem Parteiprogramm der FPÖ 2011

Unser Freiheitsbegriff wurzelt in einer idealistischen Weltanschauung und sieht den Menschen nicht auf seine materiellen Bedürfnisse beschränkt. Die Freiheit des Einzelnen findet ihre Grenzen in der Beschränkung der Freiheit des Mitbürgers. Freiheit, Menschenwürde und demokratischer Gemeinsinn sind Grundlage unserer freiheitlichen Gesinnung und unserer Ordnungsvorstellungen in Bezug auf folgende Themenschwerpunkte:

[…]

Wir bekennen uns zu den demokratischen, rechtsstaatlichen, republikanischen, gewaltenteilenden und bundesstaatlichen Verfassungsprinzipien, zum Respekt vor dem Leben und der Menschenwürde sowie zu den liberalen Grundfreiheiten wie Meinungs-, Versammlungs- und Pressefreiheit.

Link zum Parteiprogramm

Aus dem Grundsatzprogramm der Grünen 2001

Der Staat hat im Verständnis der Grünen die Aufgabe, humane gesellschaftliche Rahmenbedingungen zu garantieren. 

Der neoliberalen Forderung nach dem Rückzug des Staates aus seinen sozialen und kulturellen Aufgaben erteilen die Grünen eine klare und deutliche Absage. Dem gleichzeitig erschallenden Ruf nach einem starken Staat, wenn es um polizeiliche Befugnisse, militärische Aufrüstung oder Perfektionierung von Überwachung und Kontrolle der BürgerInnen geht, treten die Grünen entschieden entgegen. 

[…]

Grüne Politik verlangt daher nach einem aktiven Staat, der seinen Regulierungsaufgaben nachkommt, setzt aber einen gemeinnützigen, unter demokratischer Kontrolle stehenden Staat voraus.

Link zum Parteiprogramm

Aus den Plänen der NEOS aus dem Jahr 2016

Im Sinne des Verhältnismäßigkeitsprinzips sind Maßnahmen, die die Freiheit der Menschen beschränken, immer dahingehend zu prüfen, ob sie zur Problemlösung überhaupt 1. notwendig und 2. geeignet sind und auch, ob sie als Eingriff in die Selbstbestimmung der Menschen 3. verhältnismäßig zu 4. real existierenden Problemen stehen, d.h. überhaupt einen legitimen Zweck verfolgen […].

Es ist nicht die Aufgabe des Staates, seinen Bürger_innen vorzuschreiben, wie sie ihr Leben führen sollen; ebensowenig ist es seine Aufgabe, deren Selbstentfaltung unverhältnismäßig einzuschränken. Deshalb lehnen wir unnötige Verbote, Beschränkungen und Auflagen sowie staatliche Bevormundung entschieden ab.

Der Staat versucht den Bürger von der Geburt an zu lenken, zu erziehen und in gewisser Hinsicht zu bevormunden. Dabei bedient sich der Staat auch verhaltensökonomischer Instrumente. So will der Staat das menschliche Verhalten beeinflussen. Dies ist dann legitim, wenn die Ziele des Staates klar und transparent sind. Diese Ziele müssen im Interesse des Bürgers sein und auch diesem gegenüber rechtfertigbar sein. Und im besten Fall wird die angestrebte Verhaltensänderung so besser als durch Gesetze, Vorschriften und Verbote erreicht. Wenn mit diesem Nudging ein sicherer und geregelter Umgang miteinander realisiert wird, ist dies begrüßenswert.

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Das Addendum-Team, September 2020