Es gibt unterschiedlichste Begründungen dafür, sich an Gesetze zu halten. Darunter fällt unter anderem die Sorge vor den Auswirkungen von kollektivem Ungehorsam. Wenn ein Mensch sich der Obrigkeit widersetzen darf, dürfen das theoretisch alle. Wenn zu viele Bürger die Regeln missachten, kann ein Staat allerdings nicht mehr fortbestehen. Alleine deswegen wird die allgemeine Pflicht zur Einhaltung der Gesetze postuliert.
Die jüngsten Entwicklungen in der Türkei, in Polen oder Ungarn haben die Fragilität des demokratischen Rechtsstaats ins Bewusstsein gerufen. Der Präsident des österreichischen Verfassungsgerichtshofs, Gerhart Holzinger, sprach in diesem Zusammenhang von der „freiwilligen Akzeptanz des Rechts durch die Betroffenen“.
„Nur dann, wenn die staatlichen Vorschriften und die darauf gestützten gerichtlichen Entscheidungen – zumindest im Großen und Ganzen – anerkannt und befolgt werden“, sagt Holzinger, „kann das Recht seine elementare Funktion als Friedensordnung erfüllen.“ Das betrifft sogar absurde, sinnlose oder als grob ungerecht empfundene Regelungen. Wenn Einzelne für sich beanspruchen, über die Einhaltung staatlicher Vorschriften zu urteilen, kann das die gesamte Rechtsordnung bedrohen.
Selbst in Demokratien kann jedoch der Zeitpunkt erreicht sein, ab dem einzelne Bürger oder ganze Bewegungen sich zumindest punktuell nicht mehr an Gesetze halten. Man spricht dabei von zivilem Ungehorsam.
Als geistiger Urvater dieses Gedankens gilt Henry David Thoreau mit seiner Schrift „Civil Disobedience“ aus dem Jahr 1849. Er postulierte eine moralische Verpflichtung, Gesetze zu verletzen, wenn ein gewisses Maß überschritten wird – also, sobald der Einzelne dadurch anderen Ungerechtigkeit zufügt. Thoreau selbst wandte sich entschieden gegen die Sklaverei, aber auch gegen den amerikanischen Imperialismus, insbesondere den Krieg mit Mexiko Mitte des 19. Jahrhunderts.
Der Philosoph Jürgen Habermas definiert den zivilen Ungehorsam als öffentlichen und „moralisch begründeten Protest, dem nicht nur private Glaubensüberzeugungen oder Eigeninteressen zugrunde liegen dürfen“. Dadurch soll eben nicht die staatliche Ordnung in ihrer Gesamtheit infrage gestellt werden, sondern nur einzelne Normen.
Ziviler Ungehorsam ist ein moralisch begründeter Protest, dem nicht nur private Glaubensüberzeugungen oder Eigeninteressen zugrunde liegen dürfen; er ist ein öffentlicher Akt, der in der Regel angekündigt ist und von der Polizei in seinem Ablauf kalkuliert werden kann; er schließt die vorsätzliche Verletzung einzelner Rechtsnormen ein, ohne den Gehorsam gegenüber der Rechtsordnung im Ganzen zu affizieren; er verlangt die Bereitschaft, für die rechtlichen Folgen der Normverletzung einzustehen; die Regelverletzung, in der sich ziviler Ungehorsam äußert, hat ausschließlich symbolischen Charakter – daraus ergibt sich schon die Begrenzung auf gewaltfreie Mittel des Protests.
In Österreich gab es immer wieder vereinzelte Formen zivilen Ungehorsams. Ein bekanntes Beispiel ist die Geschichte rund um die „Republik Kugelmugel“. 1971 errichtete der Künstler Edwin Lipburger in Niederösterreich ein Kugelhaus – ohne Baugenehmigung. Seine durchaus kreative Begründung, eine solche aufgrund der besonderen Bauweise nicht zu brauchen, wurde abgelehnt. Auch aus Protest gegen die Behördenwillkür rief er 1976 die „Republik Kugelmugel“ aus und stellte sogar Ortstafeln auf, die den offiziellen (zu) stark ähnelten. Drei Jahre später musste er wegen Amtsanmaßung eine zehnwöchige Gefängnisstrafe verbüßen.
Nach Ausstellung eines Abbruchbescheids nahm sich der damalige Wiener Bürgermeister Helmut Zilk der Sache an: 1982 vermietete die Stadt Wien Lipburger 64 Quadratmeter im Wiener Prater und unterstützte ihn auch beim „Umzug“ seines Kugelhauses. Auch dort gab es jedoch schon bald Probleme: Der Stadt Wien zufolge war das Mietrechtsgesetz nicht anwendbar, darum kündigte sie am 31. Dezember 1988 den Mietvertrag. Der Streit wurde nie ganz beigelegt, selbst im Jahr 2008 hat Zilks Nachfolger Michael Häupl noch eine Klage bekommen.
Ein jüngerer Fall zivilen Ungehorsams ereignete sich im Zuge der Hypo-Bankenrettung. Ein Salzburger Trafikant kündigte als Protest gegen eine derartige Verschwendung von Steuergeldern einen „Steuerstreik“ an. Ebenso rief er dazu auf, es ihm gleichzutun (die Website ist nach wie vor online).
Die Verweigerung der Steuerleistung aufgrund von Unzufriedenheit hat österreichische Gerichte schon früher beschäftigt. Der unabhängige Finanzsenat in Graz setzte sich bereits in einer Entscheidung vom Mai 2011 mit einer Art Steuerstreik auseinander. Der säumige Unternehmer erklärte damals, „aus Arbeitsüberlastung und aus Ärger und wohl auch aus einer Trotzreaktion in Anbetracht der (aus seiner Sicht) lästigen andrängenden Organwalter des Finanzamtes, welche ihn lediglich von den wirklich wichtigen Dingen des Wirtschaftslebens abhielten“ die Einrichtung der Steuern bewusst unterlassen zu haben. Der unabhängige Finanzsenat zeigte zwar (ein wenig) Verständnis, stufte diese Handlung aber dennoch als Abgabenhinterziehung im Sinne des Finanzstrafgesetzes ein.
Die Aktion traf einen Nerv, zahlreiche Medien berichteten. Mittlerweile ist es um den Steuerstreik wieder still geworden. Auch die Hypo spielte in der politischen Debatte zuletzt keine Rolle mehr.
Der Salzburger Sozial- und Kulturlandesrat verfasste daraufhin einen offenen Brief, in dem er von „selbstbewusstem Sozialstaats-Patriotismus“ schrieb: „Die Gelder der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler werden nicht nur für die Eurofighter, das Hypo-Alpe-Adria Desaster oder für das Zocken auf den Finanzmärkten ausgegeben. Der überwiegende Teil wird sinnvoll verwendet.“ Ein Abkommen von dieser Übereinkunft, Steuern zu zahlen, bezeichnete er demgemäß als „gefährlichen Weg“, zumal jedem Ausgaben einfallen, die ihn stören und für die er nur ungern Steuern zahlt.
Steuern können nicht nur auf individueller, sondern auch auf kollektiver Ebene für Unmut sorgen. Das jüngste Beispiel dafür sind die aktuellen Unabhängigkeitsbestrebungen in Katalonien. Sie gründen sich nicht nur auf den katalanischen Nationalstolz und den Traum von einem eigenen Staat, sondern auch auf den unproportional hohen Beitrag Kataloniens zum spanischen Budget. Die Katalanen würden „ausgepresst wie eine Zitrone“, sagte der Südtiroler Landeshauptmann Arno Kompatscher, das Referendum bezeichnete er daher als „Hilferuf nach einer vernünftigen Autonomie“. Während Katalonien nur rund 33 Prozent der eingehobenen Steuern einbehalten darf, sind es bei Südtirol 80 bis 85 Prozent.
Der Streit rund um die Unabhängigkeit Kataloniens hat sich binnen kürzester Zeit enorm zugespitzt. Die spanische Regierung verwies auf die verfassungsrechtlich festgelegte Unteilbarkeit Spaniens und drohte damit, die Autonomie Kataloniens aufzuheben. Die Katalanen wollten wiederum wenigstens die Möglichkeit, frei und unbeeinflusst über ihren Status abzustimmen. Ungeachtet dessen, wie die Sache letztlich ausgeht, hat die Reaktion aus Madrid die Unabhängigkeitsbestrebungen zusätzlich beflügelt.
Auf den ersten Blick gibt es in Demokratien nur selten bis nie einen Anlass zu zivilem Ungehorsam. Der einzelne Bürger kann schließlich auf unterschiedliche Arten Einfluss nehmen:
In der Praxis stoßen diese Möglichkeiten in Österreich an ihre Grenzen. Wird ein Volksbegehren von mindestens 100.000 Stimmberechtigten oder je einem Sechstel der Stimmberechtigten aus drei Bundesländern unterschrieben, wird es im Nationalrat diskutiert. Im Regelfall trägt diese Form direkter Demokratie jedoch keine Früchte (eine Ausnahme stellt etwa das Rundfunkgesetz dar).
Auch Parteien scheitern oft bei der Durchsetzung berechtigter Anliegen. Selbst als Regierungspartei lassen sich viele Punkte nicht umsetzen. Abgesehen davon sind Regierungsprogramme oft schwammig formuliert. Deswegen lässt sich nur schwer feststellen, ab wann man eine Forderung als umgesetzt betrachten kann.
Zuletzt gestaltet sich auch die Gründung einer Partei äußerst schwierig. Zwar schaffen es immer wieder neue Bewegungen ins Parlament, aber bis zur erfolgreichen politischen Einflussnahme können Jahre vergehen, mitunter bleibt der Erfolg überhaupt aus.
Das stellt Demokratien vor Herausforderungen. Wenn der politische Entscheidungsprozess dysfunktional wird und Einzelne nicht mehr das Gefühl haben, sich Gehör verschaffen zu können, werden Formen zivilen Ungehorsams zunehmend attraktiver.