„Man sieht sich zum letzten Mal, und was hat man sich da zu sagen? Tschüs? Oder schwarzen Humor: Ich werd’ dich nach meinem Tod als Geist heimsuchen?“
Aurelia ist 29 Jahre alt und wird bald sterben. Weil sie es so will. Aurelia lebt in den Niederlanden, wo Sterbehilfe seit 2002 legal ist. Jährlich beenden mehrere tausende Menschen dort ihr Leben in ärztlicher Begleitung, weil sie ihre Schmerzen nicht mehr ertragen können und es keine Aussicht auf Heilung gibt.
Körperlich ist Aurelia gesund und hätte noch ein langes Leben vor sich. Doch sie leidet unter schweren psychischen Krankheiten – unter anderem an Borderline-Syndrom, Depressionen und verschiedenen Angst- und Essstörungen.
Sie ritzt sich mit Glasscherben auf. Sie drückt Zigaretten auf ihren Armen aus. Sprüht sich Deo in ihre Augen.
Seit Aurelia 21 ist, hat sie bereits mehrfach versucht, Suizid zu begehen.
Jahrelang hat sie versucht, gegen ihre Krankheiten anzukämpfen, hat alle verfügbaren Behandlungen und Therapien versucht. Aber das Monster ist größer und größer geworden. Obwohl Sterbehilfe auch für psychisch Kranke in den Niederlanden legal ist, werden nur wenige Fälle im Jahr von den Ärzten freigegeben.
Aurelia beschreibt ihre Krankheit als einen „unsichtbaren Krebs“. Seit acht Jahren kämpft sie um die Erlaubnis, Sterbehilfe in Anspruch nehmen zu dürfen.
Medial wird nur in wenigen Fällen über Suizid berichtet, aus gutem Grund: um weitere Suizide zu vermeiden. Aurelia will mit ihrer Geschichte auch niemanden dazu anstiften, Suizid zu begehen. Sie will, dass jene, die aufgrund unheilbarer Schmerzen ihr Leben beenden wollen, das auch selbstbestimmt in ärztlicher Begleitung tun können. Nicht alleine, nach einer Überdosis. Nicht, indem sie vor einen Zug springen oder von einem hohen Gebäude. Sondern zu Hause, in ihrem eigenen Bett, umgeben von Freunden. In Würde.
Die niederländische Levenseindekliniek (Lebensend-Klinik) schickt mobile Teams aus, um ambulante Sterbehilfe durchzuführen. Für psychisch Kranke ist es aber nicht leicht, diese bewilligt zu bekommen. Auch Aurelia hat dort um die Erlaubnis zu sterben angesucht. Das erste Mal im Jahr 2012, wo sie aber abgelehnt wurde, da sie noch nicht alle Behandlungsmöglichkeiten versucht hatte. Anfang 2017 war sie dann eine von 503 Ansuchenden. Sie führte Gespräche mit Ärzten und Psychologen, füllte Formulare aus und erzählte ihre Krankengeschichte. Und sie machte diesen Prozess öffentlich.
Was ist der Unterschied zwischen einem unheilbar kranken Patienten, der die Schmerzen seiner körperlichen Krankheit nicht mehr ertragen kann und einem unheilbar kranken Patienten, der die Schmerzen seiner psychischen Krankheit nicht mehr ertragen kann? Das ist Aurelias Mission, sie bloggt, postet, twittert. Sie will ihre Geschichte erzählen, Bewusstsein schaffen und hofft, mehr Verständnis für Sterbehilfe bei psychischen Krankheiten zu schaffen.
Sie darf sterben. In 26 Tagen.
Die Ärzte der Sterbehilfeklinik haben festgestellt, dass Aurelias Kampf gegen ihre Krankheit ohne Aussicht auf Erfolg ist. Ist das ein Skandal? Oder ist es an der Zeit, darüber zu sprechen, dass auch psychisch Kranke einen Punkt erreichen können, an dem ihr Leid zu groß ist, um es weiter ertragen zu können? Und dass es ethischer wäre, ihnen dabei zu helfen, ihrem Leben ein Ende zu setzen, um sie von Schmerz und Leid zu befreien? Nicht jedem, der sich Sterbehilfe wünscht, wird diese auch erlaubt, auch wenn das Kritiker oft befürchten. Der Großteil wird abgewiesen. Von den 503 Ansuchenden der Klinik, in der auch Aurelia um Sterbehilfe angesucht hat, wurden 457 abgewiesen.
Ich habe Aurelia in ihren letzten Wochen begleitet.
Obwohl in den Niederlanden die Sterbehilfe auch für psychisch Kranke erlaubt ist, ist es schwierig, sie bewilligt zu bekommen. Über Social Media und ihren eigenen Blog kämpft Aurelia für Sterbehilfe für psychiatrische Patienten, deren Leid untragbar und deren Lage hoffnungslos ist. Sie sieht das als ultimative Mission in den letzten Wochen, in denen sie noch am Leben ist.
Sie muss täglich 22 Tabletten einnehmen, aber selten nimmt sie tatsächlich alle ein. Sie hortet einige davon. Für den Fall, dass sie Suizid begehen möchte.
„Ich will mit meiner Geschichte niemanden zu etwas veranlassen. Aber ich will das Tabu brechen, und ich will Verständnis schaffen. Mental gesunde Menschen haben keine Ahnung von dem Schmerz in meiner Seele. Meine Krankheit ist nicht anderes als eine körperliche Krankheit. Ich bin austherapiert, es gibt keine Hoffnung mehr. Ich will mein Leid beenden, ich will in Würde sterben.“
Sie will es aus der Perspektive ihrer Trauergäste sehen. Das ist Teil des Prozesses, um sich klarzuwerden, dass der Tod naht.
Eines Tages ist sie aufgewacht und hat festgestellt, dass sie über Nacht in einem dissoziativen Zustand ihre Haare abgeschnitten hatte.
Extreme Stimmungsschwankungen sind Teil ihrer Krankheit.
„Ich habe auf Facebook geschrieben, dass ich bald meine tote Mutter wiedersehen werde. Jemand hat darunter geschrieben: ‚Du kommst nicht zu deiner Mutter, du kommst in die Hölle.‘ Ich habe mir gedacht: Warum sagst du so grausame Dinge zu mir, wenn du so religiös bist? Ich bin evangelisch. Ich weiß, dass Gott mich liebt. Gott ist Liebe. Ich glaube nicht an die Hölle, die gibt es nicht. Ich glaube, dass Gott mich mit offenen Armen empfangen wird. Hölle? Das ist das, was die Erde derzeit für mich ist.“
„Ich gehe einfach irgendwohin, um auf andere Gedanken zu kommen, aber ich verirre mich leicht. Wenn ich in einem dissoziativen Zustand bin, bin ich verwirrt und finde nicht mehr zurück. Dann lege ich mich einfach irgendwohin, um zu schlafen, bis mich jemand findet und die Polizei ruft, um mich heimzubringen.“
Sie hat Schlafstörungen. Manchmal bleibt sie zwei Tage am Stück wach. Dann bekommt sie Albträume. Meist verletzt sie sich in der Nacht selbst.
Sie lacht, weil der Fremde an ihrem Todestag für sie eine Kerze anzünden und zu ihrem Gedenken sein Profilbild ändern will.
„Man sieht sich zum letzten Mal, und was hat man sich da zu sagen? Tschüs? Oder schwarzen Humor: Ich werd’ dich nach meinem Tod als Geist heimsuchen?“
Aus dem Englischen übersetzt von Stephan Frank.
Für Menschen in Krisensituationen und deren Angehörige gibt es eine Reihe von Anlaufstellen. Unter www.suizid-praevention.gv.at findet man Notrufnummern und Erste Hilfe bei Suizidgedanken.
Telefonische Hilfe im Krisenfall gibt es auch bei:
● Telefonseelsorge 142, täglich, von 0 bis 24 Uhr.
● Kriseninterventionszentrum 01/406 95 95 (Montag bis Freitag, 10–17 Uhr); auch persönliche und E-Mail-Beratung.
● Sozialpsychiatrischer Notdienst / PSD Täglich, 0 bis 24 Uhr, Tel.: 01/31330