„Sie sind noch jung. Genießen Sie Ihr Leben. Meines war auch schön.“ Emanoila Seitz sagt es, legt sich den Schal um den Hals, nimmt ihren Mann an der Hand und tritt aus dem Hotel auf den Gehsteig. Dort wartet ein Bekannter der beiden mit seinem Auto. „Wir fahren jetzt nach Liestal“, sagt Johann Seitz. „Zum Sterben.“
Am 5. November 2018 begleiteten wir in einem Vorort von Basel das Ehepaar Seitz aus Deutschland auf seinem letzten Weg mit einem TV-Team. Es war für alle Beteiligten der emotionale Schlussakt wochenlanger Vorbereitungen und Gespräche. Für das Ehepaar Seitz, die Ärztin, ihre Assistenten und: uns. Wir würden für unsere TV-Reportage zwei Menschen bei ihrem kontrollierten Suizid begleiten. Bis zu ihrem unumstößlichen Ende. Und dabei gleichzeitig den Schlusspunkt einer 54 Jahre dauernden Liebesgeschichte auf Film konservieren. Letzter Akt: das Verlassen der Sterbewohnung in zwei schlichten Särgen.
Darf man das? Als Journalist darüber berichten? Das freiwillige Sterben sehen, filmen und auch zeigen? Oder überschreiten wir dabei ethische journalistische Grenzen?
Ganz ehrlich: Als mich Erika Preisig, die Ärztin, die die Freitodbegleitung des Ehepaars Seitz durchführte, das erste Mal fragte, ob wir den äußerst seltenen Fall eines gemeinsam in den Suizid gehenden Paares journalistisch begleiten wollen, zögerte ich keine Sekunde. Ich sagte sofort zu. Erst später folgten in der Redaktion heftige und kontroverse Debatten darüber, wo wir überall dabei sein wollten, was wir – theoretisch – an Inhalt, Gefühlen und vor allem Bildmaterial veröffentlichen würden. Erste Zweifel kamen auf.
Als wir, meine Kollegin Jane Hardy und ich, die Recherchen zum Thema Sterbehilfe begannen, kam schon bald eine Überlegung auf: Wir arbeiteten bereits an einem Fall, der das Schweizer Modell des assistierten Suizids für Ausländer aufgrund seiner bemerkenswerten Konstellation sehr kritisch betrachtete . Also waren wir, gewissermaßen als Gegengewicht, auf der Suche nach anderen Geschichten.
Doch wie findet man Menschen, die sich aufgrund von unerträglichen Schmerzen und Krankheit selbst töten wollen? Man stellt sich dafür nicht mit Kamera und Mikrofon in die Fußgängerzone und fragt jeden, der nicht schnell genug vorbeihuscht: „Darf ich Sie beim Sterben filmen?“ Man schaltet keine Inserate. Man bleibt zurückhaltend, wirft viele Netze aus. Und vertraut darauf, dass sich eine Gelegenheit ergibt. Per erzwungenem Zufall, sozusagen.
So kam es dann auch. Es waren nicht wir, die fragten, ob wir dabei sein dürfen. Wir erhielten das Angebot, einen freiwilligen Suizid journalistisch zu begleiten. Persönlich empfand ich das als genauso erleichternd wie interessant. Erleichternd deshalb, weil ich innerlich fühlte, dass mir ein aktives Nachfragen schwerfallen würde. Und interessant aus dem Grund, weil uns während der Recherchen wider Erwarten gleich mehrere Menschen begegneten, die ihre Geschichte vor der Kamera erzählen wollten.
Menschen, die aufgrund von Krankheit mit ihrem Leben abgeschlossen hatten, in ihrer Heimat wegen der geltenden Rechtslage genau das aber nicht durften. Stefan Mezgolits zum Beispiel , der aufgrund fortgeschrittener Multipler Sklerose in einem Pflegeheim im Burgenland ans Bett gefesselt ist und von dort aus für eine Gesetzesänderung, die auch in Österreich Freitodbegleitung ermöglichen würde, kämpft .
Oder Gerhild Wirtz (Name von der Redaktion geändert, Anm.) aus Nordrhein-Westfalen. Ihre mit dem qualvollen Erstickungstod endende Lungenerkrankung ist inzwischen so weit fortgeschritten, dass sie nicht mehr dazu in der Lage ist, selbst in die Schweiz zu fahren. Sie plant deshalb, sich mit der Unterstützung von Freunden und illegal beschafften Medikamenten selbst zu töten. „Ja bin ich denn weniger wert als ein einzuschläferndes Tier?“, fragte sie mich im Rahmen eines echten Gänsehaut-Interviews bei ihr zu Hause. Denn das, was ihre Helfer tun, ist eine Straftat.
Johann und Emanoila Seitz konnten die Reise von Deutschland in die Schweiz noch antreten. Sie machten uns gegenüber kein Geheimnis daraus, dass sie selbst an möglichst viel Öffentlichkeit interessiert sind. Ihr Wunsch dazu wurde im Rahmen unseres Treffens am Vorabend ihres Todes in einem Schweizer Hotel nochmals verdeutlicht.
Weil die Hotels in der Schweiz allergisch auf sogenannte Sterbetouristen reagieren, musste das erste Interview absolut unauffällig in einem der Zimmer des Drehteams stattfinden. In meinem. Doch so ein Set mit mehreren Stativen, Kameras und Beleuchtung braucht Platz, und die Zimmer des Billig-Hotels sind klein. Ausräumen war keine Option, denn auf den Gängen hingen Kameras. Also bauten wir das Mobiliar innerhalb des Raums ab – was unsere Interviewpartner und die Ärztin erheiterte.
„Sorgen Sie dafür“, sagte Emanoila Seitz dann, „dass diese Sendung in mehreren Programmen gesendet wird.“ Warum? „Damit die Menschen sehen, dass sie Hilfe bekommen, wenn sonst nichts mehr möglich ist.“ Nach Mitternacht schlief ich mit dem merkwürdigen Gedanken ein, dass an der Stelle, an der nun mein Bett wieder stand, vor kurzer Zeit noch zwei Menschen Rede und Antwort gestanden hatten, die am nächsten Morgen freiwillig und mit Hilfe einer Ärztin ihr Leben beenden würden. Wie mochten sie sich fühlen? Jetzt, während ihrer letzten Nacht.
Der nächste Tag. Wir, also das Team, sind überpünktlich und aufgeregter als die beiden, die am Tisch schräg gegenüber ihr letztes Frühstück einnehmen. Sie grüßen freundlich. „Bis gleich“, sagt mir Johann Seitz am Buffet. Das Team macht sich bereit, Emanoila und Johann Seitz auch, eine schnelle Absprache, dann verlassen wir das Hotel und fahren in die Sterbewohnung der Stiftung von Erika Preisig nach Liestal bei Basel. Unser Kameramann sitzt gemeinsam mit den beiden im Auto. Meine Kollegin Jane Hardy, der Tonmann und ich folgen im Wagen dahinter.
Die Fahrt führt uns durch die pittoreske Herbst-Kulisse bunter Laubwälder. Und schließlich biegt das Auto vor uns in eine Sackgasse. Endstation. Es geht los. Das Ehepaar Seitz steigt aus, beide grüßen uns wieder und nehmen die Freitreppe hinauf in die Wohnung im ersten Stock. Dort wartet Erika Preisig mit ihrem Helfer. In der Küche der großzügig angelegten Wohnung stehen zwei Dosen mit dem tödlichen Medikament bereit: Natrium-Pentobarbital. 15 mg. Dosis letalis.
Trotz ihrer Einladung, überall mit dabei zu sein, versuchen wir Abstand zu den beiden zu halten, so etwas wie ein Minimum an Privatsphäre zuzulassen, während sie sich vorbereiten, die Freitoderklärung unterschreiben, sich ein letztes Mal schön machen, bevor sie sich in die zwei bereitgestellten Betten mit Blick in die Natur legen. Dann sticht Erika Preisig die Infusionen, spült die Schläuche einmal mit Kochsalzlösung, schließt die Ventile und füllt das Natrium-Pentobarbital in die Beutel. Bis hier und nicht weiter, denke ich mir.
Alles, was nun kommen sollte, würde wohl nie ausgestrahlt werden. Ich erinnere mich an ein Gespräch, das ich mit Addendum-Herausgeber Michael Fleischhacker ein paar Wochen vorher in unserer Kaffeeküche geführt habe. Alles filmen? Wenn wir es angeboten bekommen, ja. Alles zeigen? Vermutlich nicht. Mal schauen.
Dass wir uns wenige Tage nach dem Dreh dazu entschieden, auch das Sterben von Emanoila und Johann Seitz zu zeigen, hat mit der Sanftheit der Bilder zu tun. Aber nicht nur. Wir kamen zu dem Schluss, dass man auch zeigen muss, worüber man berichtet. Und dass das Gefilmte zumutbar ist, authentisch, und mit Voyeurismus nichts zu tun hat.
In der Sterbewohnung bemühen sich Preisig und ihr Helfer, dass es die beiden Sterbenden möglichst bequem haben. Dann ist es so weit. Johann Seitz sagt: „Ich hoffe, dass ich einen schnellen und schönen Tod erleide.“ Dann greift er entschlossen das Ventil der Infusion, öffnet es, das tödliche Narkotikum beginnt in seine Venen zu fließen. Nachdem auch seine Frau den Schieber betätigt hat, greifen sich die beiden an den Händen.
Emanoila Seitz klingt fast erleichtert, als sie sagt: „Ich danke Ihnen, Frau Doktor, dass Sie uns helfen.“ Aus ihr tönt der Schmerz, den sie all die Jahre erleiden musste. Erika Preisig antwortet sanft. „Ich wünsche Ihnen beiden eine gute Reise.“ Dann wird es still. Das Ehepaar Seitz schläft ein. Für immer. Jane Hardy und ich sehen uns mit Tränen in den Augen an. Unser Kameramann hat Mühe, das Bild ruhig zu halten.
Gut, dass wir dabei waren, besprechen wir später. Der Tod gehört zum Leben. Wir sind überzeugt: Bei all der Gewalt, all dem Verderben, das uns in den Nachrichten, im Kino und auf YouTube gegenübertritt, haben wir vergessen, wie der Tod nebenan auch aussehen kann. Und deshalb zeigen wir ihn.
Für Menschen in Krisensituationen und deren Angehörige gibt es eine Reihe von Anlaufstellen. Unter www.suizid-praevention.gv.at findet man Notrufnummern und Erste Hilfe bei Suizidgedanken.
Telefonische Hilfe im Krisenfall gibt es auch bei:
● Telefonseelsorge 142, täglich, von 0 bis 24 Uhr.
● Kriseninterventionszentrum 01/406 95 95 (Montag bis Freitag, 10–17 Uhr); auch persönliche und E-Mail-Beratung.
● Sozialpsychiatrischer Notdienst / PSD Täglich, 0 bis 24 Uhr, Tel.: 01/31330