Gerhild Wirtz (Name von der Redaktion geändert) hat wieder zu rauchen begonnen. „Das ändert jetzt auch nichts mehr“, sagt sie, während sie die Sauerstoffzufuhr des Atemschlauchs kontrolliert. Die 56-Jährige ist nämlich unheilbar krank, wird – vermutlich im Lauf der nächsten eineinhalb Jahre – qualvoll ersticken. Das Rauchen in jüngeren Jahren, glaubt sie, hat wohl mit dazu beigetragen, dass sie letztlich an der unheilbaren Atemwegserkrankung COPD erkrankt ist.
Das Kürzel COPD steht für Chronic Obstructive Pulmonary Disease, was ins Deutsche übersetzt so viel wie chronisch obstruktive Lungenerkrankung bedeutet. Vereinfacht gesagt, erhöht sich der Atemwegswiderstand in Lunge und Bronchien Stück für Stück. In mildem Stadium kann die Krankheit behandelt werden. Ist die Krankheit fortgeschritten, ist häufig der Tod die Folge.
Wirtz’ Pech ist es, wie sie selbst sagt, dass sie in Deutschland lebt. Wie in Österreich, unterliegt der assistierte Suizid auch in Deutschland – ebenso wie in den meisten anderen EU-Staaten – strengen strafrechtlichen Schranken. Ausnahmen gelten in Deutschland für Angehörige oder andere Personen, die dem Betroffenen nahestehen, wenn sie nicht „geschäftsmäßig“ handeln. Weitere Hindernisse für deutsche Suizidwillige stellen ärztliche Berufsordnungen dar, ebenso wie beschränkte Möglichkeiten, die für die Selbsttötung erforderlichen Substanzen zu bekommen.
Gerne, erzählt Gerhild Wirtz, wäre sie daher für ihren assistierten Suizid in die Schweiz gefahren. Dort wird er als eine Art Dienstleistung auch Ausländern angeboten. Wegen ihrer angeschlagenen Lunge wäre die Reise allerdings zu anstrengend. Ein krankes Tier, sagt sie, dürfe man einschläfern. Sie sich selbst jedoch nicht. „Ja, mein Gott, bin ich denn weniger wert?“
Mehr von Gerhild Wirtz sehen Sie in folgendem Clip:
Innerhalb der Europäischen Union ist die aktive Sterbehilfe nur in den Niederlanden, in Luxemburg und Belgien ausdrücklich erlaubt. Einige Regelungen im Überblick:
Nimmt ein Leidender hingegen durch die Einnahme von schmerzstillenden Medikamenten eine Verkürzung seiner Lebenszeit in Kauf, spricht man von indirekter, und wird ein begonnener Sterbeprozess nicht (weiter) verhindert, von passiver Sterbehilfe. Diese beiden Formen sind in vielen Mitgliedstaaten der EU erlaubt.
Die rechtliche Situation in Europa ist also alles andere als leicht zu überblicken: Die Unterschiede zwischen den Ländern sind teils groß, die Regelungen im Detail diffizil – und waren in manchen Fällen trotz umfangreicher Recherchen nicht abschließend zu eruieren.
Diese komplexe Rechtssituation sieht visualisiert so aus:
Wie man in der Grafik sieht, ist die Situation in Österreich sogar noch strenger als bei unserem deutschen Nachbarn: Neben der aktiven Sterbehilfe ist hierzulande nämlich auch der assistierte Suizid verboten. Anders sieht die rechtliche Situation bei der passiven einerseits und der indirekten Sterbehilfe andererseits aus: Nach österreichischer Rechtslage kann auf lebensverlängernde Maßnahmen beim Sterben verzichtet werden, insbesondere durch eine Patientenverfügung. Darüber hinaus ist auch der Einsatz von Medikamenten zur Leidenslinderung selbst dann gestattet, wenn dadurch der Tod früher eintritt.
Darüber, ob und wie diese Rechtslage aufgeweicht werden sollte, gibt es heftige Kontroversen. Jedenfalls, wenn es um den assistierten Suizid und die aktive Sterbehilfe geht. Drucksituationen, so die Gegner, könnten dazu führen, dass die Entscheidung, in den Tod zu gehen, nicht immer freiwillig getroffen wird.
Dieser Argumentation folgt etwa Wolfgang Mazal, Arbeitsrechtsprofessor und Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats der Aktion Leben Österreich – die sich selbst als „Lebensschutzbewegung“ versteht und vornehmlich gegen Abtreibungen auftritt. Mazal spricht sich gegen eine Legalisierung aktiver Sterbehilfe aus. Die Gefahren, die das mit sich bringe, seien schlicht zu groß. Etwa, wenn aus Rücksicht auf die Angehörigen „gestorben wird“, obwohl das der Betroffene am Ende des Tages eigentlich doch nicht wollte.
Einen Auszug aus dem Addendum-Interview mit Professor Mazal finden Sie hier:
Letztendlich, meint der Wiener Universitätsprofessor Mazal, sei es aber eine Wertentscheidung, die getroffen werden müsse – und zwar von jeder Gesellschaft für sich selbst. Dass die Rechtslage, wie wir gezeigt haben, in anderen Ländern liberaler ist, lässt Mazal nicht als Argument für deren Aufweichung in Österreich gelten: Nicht jede Gesellschaft müsse dieselben Werte haben, es könnten klare Unterschiede bestehen. Unterschiede, die in einer Demokratie letzten Endes das Parlament in Gesetzesform zu gießen hat.
Der Sterbehilfe-Aktivist Wolfgang Obermüller sieht das gänzlich anders. Im Zivilberuf Unternehmer, engagiert er sich nebenher seit Jahren für eine Legalisierung der aktiven Sterbehilfe. Auch er räumt ein, dass eine Liberalisierung der Sterbehilfe natürlich auch Gefahren mit sich bringe – etwa in Form von Erbschleicherei.
Addendum hat Wolfgang Obermüller zum Interview getroffen, hier ein Auszug:
Dennoch werde in der Debatte einiges durcheinandergebracht, meint Obermüller. Denn ob etwas erlaubt ist oder nicht, müsse von allfälligen Missbrauchsgefahren unterschieden werden. Man könne ja auch nicht die Abschaffung der Niederlassungsfreiheit in der EU fordern, weil Großkonzerne unter Berufung auf diese den für ihr Unternehmen günstigsten Ort wählen können.
Die derzeitige Rechtslage in Europa ist also kompliziert und höchst unterschiedlich geregelt. Gerhild Wirtz, die COPD-Patientin aus Nordrhein-Westfalen, kennt sie inzwischen trotzdem sehr genau. Insbesondere die deutsche. Als 2017 das Bundesverwaltungsgericht entschied, dass in besonders schweren Fällen Ausnahmen gemacht, das für Sterbehilfe übliche Medikament Natriumpentobarbital von den Behörden ausgegeben werden müsse, schöpfte sie kurz Hoffnung. Zu Unrecht. Seit über einem Jahr blockiert die Regierung in Berlin diese Entscheidung. Auch Wirtz’ Antrag auf – wie sie sagt – humanes Sterben wurde abgelehnt.
Nun will sie sich selbst töten, mit einem Medikamentencocktail, den ihr Freunde auf illegale Weise aus dem Ausland besorgen. Mit allen Risiken.
Für Menschen in Krisensituationen und deren Angehörige gibt es eine Reihe von Anlaufstellen. Unter www.suizid-praevention.gv.at findet man Notrufnummern und Erste Hilfe bei Suizidgedanken.
Telefonische Hilfe im Krisenfall gibt es auch bei:
● Telefonseelsorge 142, täglich, von 0 bis 24 Uhr.
● Kriseninterventionszentrum 01/406 95 95 (Montag bis Freitag, 10–17 Uhr); auch persönliche und E-Mail-Beratung.
● Sozialpsychiatrischer Notdienst / PSD Täglich, 0 bis 24 Uhr, Tel.: 01/31330