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Tod auf Rezept: Ungleichheit in Europa
26. November 2018 Sterbehilfe Lesezeit 8 min
Die Rechtslage sowohl bei aktiver als auch bei passiver Sterbehilfe ist in Europa je nach Land höchst unterschiedlich. Sie reicht vom völligen Verbot bis hin zu Sterbetourismus-Paketen.
Dieser Artikel gehört zum Projekt Sterbehilfe und ist Teil 3 einer 8-teiligen Recherche.
Bild: Addendum

Gerhild Wirtz (Name von der Redaktion geändert) hat wieder zu rauchen begonnen. „Das ändert jetzt auch nichts mehr“, sagt sie, während sie die Sauerstoffzufuhr des Atemschlauchs kontrolliert. Die 56-Jährige ist nämlich unheilbar krank, wird – vermutlich im Lauf der nächsten eineinhalb Jahre – qualvoll ersticken. Das Rauchen in jüngeren Jahren, glaubt sie, hat wohl mit dazu beigetragen, dass sie letztlich an der unheilbaren Atemwegserkrankung COPD erkrankt ist.

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Das Kürzel COPD steht für Chronic Obstructive Pulmonary Disease, was ins Deutsche übersetzt so viel wie chronisch obstruktive Lungenerkrankung bedeutet. Vereinfacht gesagt, erhöht sich der Atemwegswiderstand in Lunge und Bronchien Stück für Stück. In mildem Stadium kann die Krankheit behandelt werden. Ist die Krankheit fortgeschritten, ist häufig der Tod die Folge.

Aktive Sterbehilfe – assistierter Suizid

Wirtz’ Pech ist es, wie sie selbst sagt, dass sie in Deutschland lebt. Wie in Österreich, unterliegt der assistierte Suizid auch in Deutschland – ebenso wie in den meisten anderen EU-Staaten – strengen strafrechtlichen SchrankenAusnahmen gelten in Deutschland für Angehörige oder andere Personen, die dem Betroffenen nahestehen, wenn sie nicht „geschäftsmäßig“ handeln. Weitere Hindernisse für deutsche Suizidwillige stellen ärztliche Berufsordnungen dar, ebenso wie beschränkte Möglichkeiten, die für die Selbsttötung erforderlichen Substanzen zu bekommen.

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Gerne, erzählt Gerhild Wirtz, wäre sie daher für ihren assistierten Suizid in die Schweiz gefahren. Dort wird er als eine Art Dienstleistung auch Ausländern angeboten. Wegen ihrer angeschlagenen Lunge wäre die Reise allerdings zu anstrengend. Ein krankes Tier, sagt sie, dürfe man einschläfern. Sie sich selbst jedoch nicht. „Ja, mein Gott, bin ich denn weniger wert?“

Mehr von Gerhild Wirtz sehen Sie in folgendem Clip:

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Sterbehilfe in Europa und den USA

Innerhalb der Europäischen Union ist die aktive Sterbehilfe nur in den Niederlanden, in Luxemburg und Belgien ausdrücklich erlaubt. Einige Regelungen im Überblick:

  • Niederlande: Die Niederlande haben 2001 als erstes Land der Welt ein Sterbehilfe-Gesetz verabschiedet. Danach sind Sterbehilfe und ärztliche Hilfe bei der Selbsttötung nicht strafbar, wenn ein Patient aussichtslos krank ist und unerträglich leidet sowie mehrfach und ausdrücklich um Sterbehilfe gebeten hat. Das Töten auf Verlangen bleibt dort auch bei Minderjährigen straffrei, allerdings erst ab zwölf Jahren.
  • Belgien: Im Mai 2002 hat die belgische Abgeordnetenkammer ein „Gesetz zur Euthanasie“ verabschiedet. Nach dem Gesetz ist die Tötung auf Verlangen durch einen Arzt unter bestimmten Bedingungen erlaubt. Ende 2013 stimmte der belgische Senat für eine Ausweitung der Regelung auf Minderjährige ohne jegliche Altersbegrenzung. Die Abgeordnetenkammer stimmte der Regelung im Februar 2014 zu.
  • Luxemburg: Im März 2009 trat ein Sterbehilfegesetz in Kraft, das aktive Sterbehilfe wie in den Niederlanden und Belgien unter bestimmten Umständen erlaubt. Bereits 2008 hatte das Parlament das Gesetz mit knapper Mehrheit beschlossen, doch Großherzog Henri I. weigerte sich aus Gewissensgründen, das Regelwerk zu unterzeichnen. Daraufhin focht das Luxemburger Parlament eine Verfassungsänderung durch und beschränkte die Rolle des katholischen Staatsoberhaupts auf eine rein repräsentative.
  • Frankreich: Nach einem Gesetz von 2005 ist aktive Sterbehilfe strafbar. Ärzte dürfen die Behandlung unheilbar Kranker jedoch stoppen oder begrenzen, wenn der Patient dies wünscht. Aktive Sterbehilfe soll hingegen im Regelfall weiter verboten bleiben, das Bürgergremium sprach sich lediglich für Ausnahmeregelungen in besonderen Fällen aus.
  • Großbritannien: In Großbritannien ist aktive Sterbehilfe verboten. Auch jede Beihilfe zur Selbsttötung ist ein Straftatbestand. Dabei gibt es einen weiten Ermessensspielraum beim Strafmaß. In der Praxis kommt es selten zur Strafverfolgung.
  • Italien: Vergleichbar mit der Situation in Deutschland fällt die aktive Sterbehilfe grundsätzlich in den Anwendungsbereich des strafrechtlichen Verbots der vorsätzlichen Tötung. Bei einer Tötung aus Mitleid kann eine Strafmilderung gewährt werden. Abweichend von der deutschen Rechtslage sind auch die Verleitung und die Beihilfe zur Selbsttötung strafbar.
  • Schweiz: In der Schweiz ist Sterbehilfe zwar weithin gesellschaftlich akzeptiert, eine aktive Unterstützung – wie etwa Tötung auf Verlangen – ist aber auch dort verboten. Die Gesetze erlauben jedoch, aus nicht-selbstsüchtigen Motiven sterbenskranken Menschen auf Wunsch Beihilfe zum Suizid zu leisten. Bei der Einnahme eines tödlichen Medikaments dürfen Sterbebegleiter sowie Angehörige und Freunde zugegen sein. Die Sterbehilfe-Organisation Exit akzeptiert nur Antragsteller, die ihren festen Wohnsitz in der Schweiz haben. Offen für Sterbewillige aus aller Welt ist die Organisation Dignitas .
  • Dänemark: In Dänemark dürfen Patienten seit 1992 lebenserhaltende Maßnahmen verweigern, dazu dient unter anderem auch die Patientenverfügung, die in einem zentralen Register erfasst wird. Ärzte sind verpflichtet, dieses Register zu konsultieren, wenn sie lebenserhaltende Maßnahmen vornehmen wollen.
  • Spanien: In Spanien gelten Sterbehilfe und Hilfe zur Selbsttötung seit 1995 nicht mehr als Totschlag; wenn der Patient seinen Todeswunsch nachhaltig geäußert hat und unerträgliche Qualen leidet, werden keine Gefängnisstrafen mehr gegen Ärzte verhängt, die Sterbehilfe leisten.
  • USA: In den USA ist aktive Sterbehilfe generell verboten, der ärztlich assistierte Freitod ist aber in einigen Bundesstaaten erlaubt. Oregon ermöglichte als erster US-Staat Ärzten, unheilbar Kranken ein tödliches Medikament zu verschreiben, das der Patient dann selbst einnimmt. Ein Gesetz von 1997 sieht dafür strenge Auflagen vor. Zwei Ärzte müssen bescheinigen, dass der Kranke voraussichtlich nur noch höchstens sechs Monate zu leben hat. Der Betroffene muss volljährig sein, seinen Wohnsitz in Oregon haben und seinen Sterbewunsch mehrfach mündlich wie schriftlich äußern. Ähnlich ist die Situation in den Bundesstaaten Washington und Vermont, in Montana und New Mexico.

Indirekte und passive Sterbehilfe

Nimmt ein Leidender hingegen durch die Einnahme von schmerzstillenden Medikamenten eine Verkürzung seiner Lebenszeit in Kauf, spricht man von indirekter, und wird ein begonnener Sterbeprozess nicht (weiter) verhindert, von passiver Sterbehilfe. Diese beiden Formen sind in vielen Mitgliedstaaten der EU erlaubt.

Die rechtliche Situation in Europa ist also alles andere als leicht zu überblicken: Die Unterschiede zwischen den Ländern sind teils groß, die Regelungen im Detail diffizil – und waren in manchen Fällen trotz umfangreicher Recherchen nicht abschließend zu eruieren.

Diese komplexe Rechtssituation sieht visualisiert so aus:

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Österreich: Noch strenger als Deutschland

Wie man in der Grafik sieht, ist die Situation in Österreich sogar noch strenger als bei unserem deutschen Nachbarn: Neben der aktiven Sterbehilfe ist hierzulande nämlich auch der assistierte Suizid verboten. Anders sieht die rechtliche Situation bei der passiven einerseits und der indirekten Sterbehilfe andererseits aus: Nach österreichischer Rechtslage kann auf lebensverlängernde Maßnahmen beim Sterben verzichtet werden, insbesondere durch eine Patientenverfügung. Darüber hinaus ist auch der Einsatz von Medikamenten zur Leidenslinderung selbst dann gestattet, wenn dadurch der Tod früher eintritt.

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Darüber, ob und wie diese Rechtslage aufgeweicht werden sollte, gibt es heftige Kontroversen. Jedenfalls, wenn es um den assistierten Suizid und die aktive Sterbehilfe geht. Drucksituationen, so die Gegner, könnten dazu führen, dass die Entscheidung, in den Tod zu gehen, nicht immer freiwillig getroffen wird.

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Andere Länder, andere Sitten

Dieser Argumentation folgt etwa Wolfgang Mazal, Arbeitsrechtsprofessor und Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats der Aktion Leben Österreich – die sich selbst als „Lebensschutzbewegung“ versteht und vornehmlich gegen Abtreibungen auftritt. Mazal spricht sich gegen eine Legalisierung aktiver Sterbehilfe aus. Die Gefahren, die das mit sich bringe, seien schlicht zu groß. Etwa, wenn aus Rücksicht auf die Angehörigen „gestorben wird“, obwohl das der Betroffene am Ende des Tages eigentlich doch nicht wollte.

Einen Auszug aus dem Addendum-Interview mit Professor Mazal finden Sie hier:

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Letztendlich, meint der Wiener Universitätsprofessor Mazal, sei es aber eine Wertentscheidung, die getroffen werden müsse – und zwar von jeder Gesellschaft für sich selbst. Dass die Rechtslage, wie wir gezeigt haben, in anderen Ländern liberaler ist, lässt Mazal nicht als Argument für deren Aufweichung in Österreich gelten: Nicht jede Gesellschaft müsse dieselben Werte haben, es könnten klare Unterschiede bestehen. Unterschiede, die in einer Demokratie letzten Endes das Parlament in Gesetzesform zu gießen hat.

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Äpfel und Birnen

Der Sterbehilfe-Aktivist Wolfgang Obermüller sieht das gänzlich anders. Im Zivilberuf Unternehmer, engagiert er sich nebenher seit Jahren für eine Legalisierung der aktiven Sterbehilfe. Auch er räumt ein, dass eine Liberalisierung der Sterbehilfe natürlich auch Gefahren mit sich bringe – etwa in Form von Erbschleicherei.

Addendum hat Wolfgang Obermüller zum Interview getroffen, hier ein Auszug:

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Dennoch werde in der Debatte einiges durcheinandergebracht, meint Obermüller. Denn ob etwas erlaubt ist oder nicht, müsse von allfälligen Missbrauchsgefahren unterschieden werden. Man könne ja auch nicht die Abschaffung der Niederlassungsfreiheit in der EU fordern, weil Großkonzerne unter Berufung auf diese den für ihr Unternehmen günstigsten Ort wählen können.

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Sterbehilfe ist eine Dienstleistung.
Wolfgang Obermüller, Pro-Sterbehilfe-Aktivist

Die derzeitige Rechtslage in Europa ist also kompliziert und höchst unterschiedlich geregelt. Gerhild Wirtz, die COPD-Patientin aus Nordrhein-Westfalen, kennt sie inzwischen trotzdem sehr genau. Insbesondere die deutsche. Als 2017 das Bundesverwaltungsgericht entschied, dass in besonders schweren Fällen Ausnahmen gemacht, das für Sterbehilfe übliche Medikament Natriumpentobarbital von den Behörden ausgegeben werden müsse, schöpfte sie kurz Hoffnung. Zu Unrecht. Seit über einem Jahr blockiert die Regierung in Berlin diese Entscheidung. Auch Wirtz’ Antrag auf – wie sie sagt – humanes Sterben wurde abgelehnt.

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Nun will sie sich selbst töten, mit einem Medikamentencocktail, den ihr Freunde auf illegale Weise aus dem Ausland besorgen. Mit allen Risiken. 

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Hilfe in Krisen

Für Menschen in Krisensituationen und deren Angehörige gibt es eine Reihe von Anlaufstellen. Unter www.suizid-praevention.gv.at findet man Notrufnummern und Erste Hilfe bei Suizidgedanken.

Telefonische Hilfe im Krisenfall gibt es auch bei:

● Telefonseelsorge 142, täglich, von 0 bis 24 Uhr.

Kriseninterventionszentrum 01/406 95 95 (Montag bis Freitag, 10–17 Uhr); auch persönliche und E-Mail-Beratung.

● Sozialpsychiatrischer Notdienst / PSD Täglich, 0 bis 24 Uhr, Tel.: 01/31330

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