Anfang Dezember 2015 offenbart das Finanzministerium in Wien plötzlich hohe Nervosität. Das Magazin News berichtet gemeinsam mit der Süddeutschen Zeitung, dass es in Österreich Ermittlungen zum sogenannten Cum-Ex-Steuerbetrug gibt. Bei diesem Betrugsmodell lässt sich eine Tätergruppe Kapitalertragsteuer auf Aktiendividenden mehrfach rückerstatten, obwohl sie nur einmal abgeführt wurde. Möglich ist das – vereinfacht gesagt – durch das geschickte Verschieben von Aktienpaketen rund um den Dividendenstichtag.
Der Betrugsfall hatte zuvor schon in Deutschland für Aufregung gesorgt. Nun wurde öffentlich bekannt, dass auch Österreich betroffen war. Eines musste die Verantwortlichen im Ministerium daran besonders stören: News berichtete nicht nur, dass es einen großen Cum-Ex-Fall gab, der noch rechtzeitig von den Behörden gestoppt worden war. Dem Bericht war darüber hinaus zu entnehmen, dass es – Erkenntnissen der Ermittler zufolge – tatsächlich zu einem Schaden für den Staat gekommen war.
Das hinderte das Finanzministerium – damals unter Hans Jörg Schelling – nicht daran, ein paar Tage später mit dem Beschwichtigen zu beginnen: „In Österreich ist es mit hoher Gewissheit zu keinem Schaden gekommen“, versicherte ein Ministeriumssprecher in einer Tageszeitung. Unmittelbar darauf wurde das Finanzministerium in einer anderen Zeitung damit zitiert, dass man die Machenschaften in Österreich vereiteln habe können, bevor ein Schaden entstanden war. Diese Linie sollte das Ministerium bis zum 7. März 2019 im Wesentlichen beibehalten.
Doch das Thema war Ende 2015 ins Rollen gebracht worden – und konnte letztlich weder von Schelling noch von seinem Nachfolger Hartwig Löger (beide ÖVP) gestoppt werden. Ende April 2016 richtete der damalige grüne Abgeordnete und nunmehrige Mandatar der Liste „Jetzt“, Bruno Rossmann, eine erste parlamentarische Anfrage mit 56 Detailpunkten an Schelling. Zwei Monate später kam die Antwort. Diese enthielt erstmals Zahlen zu den Rückerstattungsvolumina – und einige Auffälligkeiten. Rossmann schloss bereits damals einen Schaden in dreistelliger Millionenhöhe nicht aus.
In der Zwischenzeit hatte Rossmann als Nationalratsabgeordneter zusätzlich eine Sonderprüfung durch den Rechnungshof initiiert. Die Prüfung dauerte von November 2016 bis Mai 2017. Dabei stellte der Rechnungshof auch Berechnungen an, die ergaben, dass Österreich zumindest einen Schaden von 1,78 Millionen Euro erlitten hatte – möglicherweise auch noch weitere 5,92 Millionen Euro. Der Rechnungshof kritisierte das Ministerium. Dieses hätte bereits nach Bekanntwerden der Cum-Ex-Problematik mit umfassenden Datenanalysen erkennen können, dass Kapitalertragsteuer ungerechtfertigt erstattet worden war.
Stattdessen übte sich das Ministerium weiterhin im Beschwichtigen. Daran änderte sich auch nichts, als der Rechnungshof seinen Bericht im Juli 2018 veröffentlichte und das Ausmaß des Versagens klar wurde. Kurz zusammengefasst stellte der Rechnungshof fest, dass dem Ministerium viele Risiken bereits seit dem Jahr 2006 bekannt gewesen waren, es aufgezeigte Probleme aber bis zuletzt nicht zufriedenstellend beseitigt hatte. Angesichts der herben Kritik verwundert es nicht, dass das Ministerium versucht hat, die Affäre um verschwundenes Steuergeld möglichst klein zu halten.
Mitte Oktober 2018 wurde das Thema richtig groß. Ein länderübergreifendes Journalistennetzwerk startete mit einer Reihe von Veröffentlichungen. Unter dem Projektnamen „CumEx Files“ hatte Addendum zusammen mit 18, vom deutschen Recherchezentrum CORRECTIV koordinierten Medienpartnern den größten Steuerraub in der Geschichte Europas aufgedeckt.
Addendum legte dar, dass Österreich viel stärker betroffen war als bisher bekannt. Ein Insider schätzte den jährlichen Schaden für Österreich auf 50 bis 100 Millionen Euro. Addendum analysierte Zahlen und Dokumente und erklärte, warum an einer Größenordnung von 50 Millionen Euro pro Jahr tatsächlich etwas dran sein könnte – ein Vielfaches von dem, was der Rechnungshof errechnet hatte.
Wie sich nun zeigt, war diese Analyse richtig. Finanzminister Löger versuchte zunächst, an der bisherigen Linie festzuhalten. Er erklärte, ein Schaden wäre „nicht evident“. Doch Rossmann stellte – mit Verweis auf die „CumEx Files“ – neuerlich eine Anfrage. Und im Dezember kündigte Löger dann plötzlich im Parlament an, er werde den Gesamtschaden bis März 2019 beziffern.
Am 7. März wurden nun tatsächlich Zahlen auf den Tisch gelegt. Laut Ministerium fand die Finanzprokuratur für den Zeitraum 2011 bis 2013 einen Schaden von 108 Millionen Euro. Bedenkt man, dass die Finanz bereits im Laufe des Jahres 2013 restriktiver zu prüfen begonnen hat, ist davon auszugehen, dass diese Summe in weniger als drei vollen Jahren zusammengekommen ist. Außerdem wurde laut Ministerium 2013 ein zusätzlicher Schaden von 38 Millionen Euro abgewendet.
Daraus ergibt sich, dass Österreich zumindest in diesen drei Jahren mit durchschnittlich etwa 50 Millionen Euro von Cum-Ex-Geschäften betroffen war – jene Größenordnung, die Addendum im Rahmen der „CumEx Files“ für schlüssig befunden hatte. Nach Jahren des Kleinredens musste das Ministerium einen großen Schaden für die Steuerzahler zugeben. Damit ist jedoch noch immer nicht alles transparent. So blieb in der Aussendung des Ministeriums offen, was in den Jahren vor 2011 gewesen ist. Rossmann hat bereits angekündigt, diesbezüglich nachstoßen zu wollen.