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Strafrecht auf dem Prüfstand
13. Juli 2018 Strafrecht Lesezeit 10 min
Eine faktenbasierte Debatte über die geplante Strafrechtsreform zu führen, ist schwierig, nicht zuletzt aufgrund einer uneinheitlichen Spruchpraxis der Gerichte und der Komplexität des Strafrechts. Ein Annäherungsversuch.
Dieser Artikel gehört zum Projekt Strafrecht und ist Teil 3 einer 4-teiligen Recherche.
Bild: Lilly Panholzer | Addendum

Die letzte große Reform ist gerade einmal zweieinhalb Jahre in Kraft, und schon steht das Strafrecht erneut auf dem Prüfstand. Von der türkis-blauen Regierung wurde eine eigene Taskforce dazu eingerichtet, die Mitte März dieses Jahres ihre Arbeit aufgenommen hat.

Strafrechtsreform reloaded

Die Agenda der Regierung ist lang, wie ein Blick in ihr Regierungsprogramm zeigt. So sollen etwa die Ober- und, vor allem, Untergrenzen von Strafdrohungen evaluiert werden, und es stehen Nachschärfungen der Strafzumessungsgründe – etwa durch eine außerordentliche Strafverschärfung bei besonders verwerflichen Beweggründen, brutaler Tatbegehung oder bei nachhaltigen psychischen Folgen für das Opfer – auf dem Programm.

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Vor allem im Bereich der Sexual- und Gewaltdelikte sei das Strafrecht derzeit zu milde, liest man weiters, das ergebe ein Vergleich mit Delikten gegen fremdes Vermögen. Die Gesellschaft empfinde diese Relation als nicht mehr zeitgemäß.

Um herauszufinden, ob das wirklich so ist, gab Addendum beim Institut marketagent eine Umfrage zu ausgewählten Fragestellungen und Straftatbeständen in Auftrag.

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Klare Tendenzen

Das Ergebnis war ziemlich eindeutig: 80,5 Prozent der mehr als 1.500 online befragten Personen waren der Ansicht, das Strafmaß für Gewalttaten sei in Österreich derzeit zu mild. Bei Sexualdelikten lag der Wert gar bei 90,3 Prozent. Und, was manche überraschen könnte: Weibliche Befragte vertreten um einiges strengere Ansichten als Männer.

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Für eine drastische Verschärfung des Strafrechts sind jene 20,1 Prozent der Befragten, die der Aussage, dass die Todesstrafe in Österreich in Zukunft bei Mord wiedereingeführt werden sollte, „voll und ganz“ zustimmten. Bei Vergewaltigung lag dieser Wert bei 10,8 Prozent. 42,7 Prozent beziehungsweise 48,9 Prozent stimmten in diesen beiden Punkten hingegen „überhaupt nicht zu“.

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Unklare Debatten

Anders als die Ergebnisse dieser Umfrage sind die derzeit im Rahmen einer allfälligen Strafrechtsreform diskutierten Themen alles andere als einfach zu fassen. Aussagen wie „Die Strafen sind zu niedrig“ sind ebenso verkürzend wie Fragestellungen im Stil von „Sind Sie für höhere Strafen?“.

Will man die Debatte präzise führen, gilt es, zuvor den Status quo der gerichtlichen Spruchpraxis zu erheben. Doch das ist schwieriger, als man meinen möchte. Man muss dabei zwischen den einzelnen Delikten und der Höhe der jeweils angedrohten Freiheits- und Geldstrafen unterscheiden. Vor allem die Ober- und Untergrenzen der Strafdrohungen sind wichtig. Und schließlich können Strafen unter bestimmten Voraussetzungen auch (teilweise) bedingt verhängt werden, sie werden also – vorerst – nicht vollstreckt.

Im Detail ist die Sache jedenfalls ziemlich kompliziert. Pauschale Aussagen zur Strenge oder Milde des österreichischen Strafrechts sind daher schwer zu treffen. Es kommt ein weiterer Aspekt hinzu, der verallgemeinernde Aussagen beinahe unmöglich macht: die Strafzumessung.

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Jeder Fall ist anders

Wie hoch eine Strafe am Ende ausfällt, hängt nämlich von vielen weiteren Faktoren ab, nicht zuletzt von den sogenannten besonderen Erschwerungs- und Milderungsgründen. Jemand, der bereits mehrere strafbare Handlungen begangen hat, muss ebenso mit einer strengeren Strafe rechnen wie ein Täter, der besonders grausam gehandelt hat. Andererseits kann ein Geständnis zu einer milderen Strafe führen. Gleiches gilt für den bloßen Versuch einer Straftat oder einen bisher Unbescholtenen.

Einheitliche Richtlinien, wie in welchem Fall zu urteilen ist, gibt es allerdings nicht, wie Addendum aus Fachkreisen bestätigt wurde. Das wäre angesichts der Vielzahl an unterschiedlichen Sachverhalten wohl auch praktisch schwer umsetzbar.

Selbst dem Justizminister wäre es nicht möglich, auf kurzem Weg auf eine Vereinheitlichung der Spruchpraxis hinzuwirken: Er kann zwar als vorgesetzte Behörde der Staatsanwälte Weisungen erteilen, bei den Richtern sind ihm aber – nach dem Grundsatz der Trennung von Verwaltung und unabhängiger Gerichtsbarkeit – verfassungsrechtlich die Hände gebunden.

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Von Richter zu Richter

Aber wie kommt es dann zu einer Verurteilung? Eine Faustregel besagt, dass das Gericht bei durchschnittlichen Delikten vom unteren Drittel der Strafdrohung ausgeht – und sich dann über Erschwerungs- und Milderungsgründe stückweise nach unten oder oben orientiert. Daher könnte eine Anhebung der Mindeststrafdrohungen Auswirkungen auf die Vereinheitlichung der Spruchpraxis österreichischer Gerichte haben, derzeit noch milder urteilende Richter könnten sich „nach oben orientieren“. Darüber hinaus, berichten Praktiker, spielen Erfahrungswerte und Gespräche mit Kollegen eine wichtige Rolle bei der Entscheidungsfindung; ebenso ältere Entscheidungen, nicht zuletzt Urteile höherer Instanzen.

Diese und viele weitere Gründe führen dazu, dass generelle Aussagen zur Höhe von Strafdrohungen und zur Strenge oder Milde von Verurteilungen schwer zu treffen sind. Nicht beantwortet ist auch die Frage nach dem Ausmaß der tatsächlich verbüßten Strafen.

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Unter bestimmten Voraussetzungen kann man etwa nach einer bestimmten Zeit vorzeitig aus der Haft entlassen werden. Außerdem wird die Untersuchungshaft angerechnet. Darüber hinaus darf auch nicht auf die Möglichkeit der diversionellen Erledigung eines Verfahrens vergessen werden, bei der es sich jedoch nicht um eine Strafe handelt.

Annäherungsversuche

Mit einigem Aufwand ist es allerdings möglich, Tendenzen herauszuarbeiten. Wir haben das versucht und die für ausgewählte Straftatbestände verhängten Freiheitsstrafen analysiert. Das – freilich stark vereinfachende – Ergebnis ergibt für die im Zeitraum 2012 bis 2017 verhängten unbedingten Haftstrafen folgendes Bild:

Ost-West-Gefälle

Eine andere bekannte Tendenz ist das sogenannte Ost-West-Gefälle: Die Gerichte Westösterreichs urteilen traditionell, wenn auch keineswegs grundsätzlich, milder als ihre östlichen Pendants. Zu diesem Ergebnis kamen etwa die Wissenschaftler Christian Grafl und Kurt Schmoller im Jahr 2015. Besonders auffällig sei dieser Unterschied bei (nicht vorbestraften) männlichen Erwachsenen. So würden im OLG-Sprengel Innsbruck bedeutend weniger Freiheitsstrafen verhängt als in den Sprengeln der OLG Linz und, noch mehr, Wien. Geldstrafen würden sich im Westen viel größerer Beliebtheit erfreuen.

Auch das Ergebnis einer weiteren Studie aus dem Jahr 2013 ist in diesem Zusammenhang interessant. Demnach wurde in den OLG-Sprengeln Wien und Linz über rund 35 Prozent der jungen Sexualstraftäter die Untersuchungshaft verhängt, während das im OLG-Sprengel Innsbruck nur bei 13 Prozent der Fall war.

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In Österreich gibt es vier Oberlandesgerichtssprengel: Vorarlberg und Tirol mit Sitz des OLG in Innsbruck, Salzburg und Oberösterreich mit Sitz des OLG in Linz, Kärnten und Steiermark mit Sitz des OLG in Graz und Wien, Niederösterreich und Burgenland mit Sitz des OLG in Wien.

§ 84 StGB vorher – nachher

Schwere Körperverletzung – bis 31.12.2015

§ 84. (1) Hat die Tat eine länger als vierundzwanzig Tage dauernde Gesundheitsschädigung oder Berufsunfähigkeit zur Folge oder ist die Verletzung oder Gesundheitsschädigung an sich schwer, so ist der Täter mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren zu bestrafen.

(2) Ebenso ist der Täter zu bestrafen, wenn die Tat begangen worden ist

  1. mit einem solchen Mittel und auf solche Weise, womit in der Regel Lebensgefahr verbunden ist,
  2. von mindestens drei Personen in verabredeter Verbindung,
  3. unter Zufügung besonderer Qualen oder
  4. an einem Beamten, Zeugen oder Sachverständigen während oder wegen der Vollziehung seiner Aufgaben oder der Erfüllung seiner Pflichten.

(3) Ebenso ist der Täter zu bestrafen, wenn er mindestens drei selbständige Taten ohne begreiflichen Anlaß und unter Anwendung erheblicher Gewalt begangen hat.

Schwere Körperverletzung – ab 01.01.2016

§ 84. (1) Wer einen anderen am Körper misshandelt und dadurch fahrlässig eine länger als vierundzwanzig Tage dauernde Gesundheitsschädigung oder Berufsunfähigkeit oder eine an sich schwere Verletzung oder Gesundheitsschädigung zufügt, ist mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren zu bestrafen.

(2) Ebenso ist zu bestrafen, wer eine Körperverletzung (§ 83 Abs. 1 oder Abs. 2) an einem Beamten, Zeugen oder Sachverständigen während oder wegen der Vollziehung seiner Aufgaben oder der Erfüllung seiner Pflichten begeht.

(3) Ebenso ist der Täter zu bestrafen, wenn er mindestens drei selbstständige Taten (§ 83 Abs. 1 oder Abs. 2) ohne begreiflichen Anlass und unter Anwendung erheblicher Gewalt begangen hat.

(4) Mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren ist zu bestrafen, wer einen anderen am Körper verletzt oder an der Gesundheit schädigt und dadurch, wenn auch nur fahrlässig, eine schwere Körperverletzung oder Gesundheitsschädigung (Abs. 1) des anderen herbeiführt.

(5) Ebenso ist zu bestrafen, wer eine Körperverletzung (§ 83 Abs. 1 oder Abs. 2) begeht

  1. auf eine Weise, mit der Lebensgefahr verbunden ist,
  2. mit mindestens zwei Personen in verabredeter Verbindung oder
  3. unter Zufügung besonderer Qualen.

Strafrechtsreform auf dem Prüfstand

Eine weitere Möglichkeit, Grundlagen für die gegenständliche Debatte zu schaffen, ist die Wirkungsanalyse vergangener Reformen. So etwa jener des Strafrechtsänderungsgesetzes 2015, mit der bereits Verschärfungen im Bereich der Sexual- und Gewaltdelikte umgesetzt wurden.

Diese Evaluierung hat sich nicht nur Justizminister Moser auf die Agenda gesetzt. Auch wir haben eine Annäherung versucht und mit der schweren Körperverletzung ein Delikt, das im Zuge dieser am 1.1.2016 in Kraft getretenen Strafrechtsreform geändert wurde, einem historischen Vergleich unterzogen.

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Es zeigt sich: Die Novellierung dürfte tatsächlich Auswirkungen gehabt haben.

Wer eine wirklich fundierte Debatte über die Reform des österreichischen Strafrechts führen will, hat sich also einiges vorgenommen. 

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Weiterführende Literatur

Christian Grafl, Kurt Schmoller: Entsprechen die gesetzlichen Strafdrohungen und die von den Gerichten verhängten Strafen den aktuellen gesellschaftlichen Wertungen? In: Verhandlungen des Neunzehnten Österreichischen Juristentages, ÖJT (2015)

Oskar Maleczky: Strafrecht Allgemeiner Teil II, facultas.wuv (2017)

Robert Rebhahn: Effektivität des Rechts, ÖJZ 2018/7

Stefan Seiler: Strafrecht Allgemeiner Teil II, Verlag Österreich (2017)

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