Man verabredet sich im Zigarrenzimmer eines internationalen Grand Hotels, im Wettcafé am Hauptbahnhof oder einfach auf einer Parkbank im Prater. Manche Gesprächspartner kommen mit einer schwarzen Limousine, andere nehmen die Straßenbahn. Wenn man mit Mitarbeitern ausländischer Nachrichtendienste in Wien Kontakt aufnehmen will, braucht man neben einer gewissen Flexibilität in der Auswahl der Treffpunkte eine gehörige Portion Geduld. Jedenfalls ist man in Wien am richtigen Ort. Die Stadt war und ist eine Hochburg der Agenten, bis zu 10.000 sollen Experten zufolge derzeit in der Stadt leben.
Warum eignet sich Wien so gut für Aktivitäten im Verborgenen? Warum gibt es in Österreich bis heute keinen Inlandsnachrichtendienst? Woher kommt der immer wieder kolportierte Mythos von Wien als vermeintlich perfektem Rückzugsraum – nicht nur für Geheimdienste, sondern auch für terrornahe Organisationen?
Die Republik Österreich wird, wie bereits in den Jahren zuvor, als bevorzugtes Operationsgebiet für ausländische Nachrichtendienste erachtet. Die Gründe dafür liegen in der günstigen geografischen Lage des Landes, seinen wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Aktivitäten vor allem in Hinblick auf Technologie und Energiewirtschaft, seiner Mitgliedschaft in der Europäischen Union, dem Sitz einer Reihe internationaler Organisationen, wie etwa den Vereinten Nationen. Österreich ist einerseits ein internationaler nachrichtendienstlicher Umschlagplatz, da die hiesigen exzellenten Verkehrsverbindungen konspirative Treffen zwischen Nachrichtendienstmitarbeitern aus anderen Ländern erleichtern und hervorragende Fluchtmöglichkeiten darstellen (sogenannte Drittlandtreffen), andererseits aber auch ein Ziel nachrichtendienstlicher Beeinflussung und Ausspähung. Die Anzahl an diplomatischen Vertretungen und hier stationierten Nachrichtendienstoffizieren ist unvermindert hoch. Auf diese Weise werden zum einen gute bilaterale Beziehungen gefördert, zum anderen jedoch auch Aufklärung für andere Staaten unter Zuhilfenahme von bewährten Spionagemethoden betrieben. Im Jahr 2016 konnten durch die Ermittlungstätigkeiten des BVT etliche Anwerbungsversuche österreichischer Staatsangehöriger durch ausländische Nachrichtendienste in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen festgestellt werden.
Einige Gründe dafür werden im Verfassungsschutzbericht des Bundesamts für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT) angeführt. Erläutert wird darin etwa, dass Wiens geografische Lage nach wie vor eine entscheidende Rolle spielt. Daran hat sich auch Jahrzehnte nach dem Fall des Eisernen Vorhangs nichts geändert.
Doch nicht nur, weil Wien im Zentrum Europas liegt und viele internationale Organisationen beherbergt, lassen sich Agenten hier nieder.
Eine Versetzung nach Wien, das weiß der ehemalige Chef des BVT, Gert-René Polli, gehört bis heute zu den Belohnungen einer verdienstvollen Geheimdienstkarriere. Unter anderem, weil man sich in Österreich nur in ernsthafte Schwierigkeiten bringen könne, wenn sich die geheimdienstlichen Tätigkeiten gegen die Interessen der Republik richteten.
Eine wirksame Spionageabwehr, sagen Kenner der Szene, kann de facto nicht stattfinden, weil bisher der politische Wille fehlte, einen zivilen Inlandsnachrichtendienst aufzubauen. Das BVT, das gerne als nichtmilitärischer Nachrichtendienst gesehen wird, ist in den polizeilichen Ermittlungsapparat eingebunden. Die Mitarbeiter sind Polizisten. Daher kann das BVT kein Nachrichtendienst im herkömmlichen Sinn sein, der mit dem deutschen Verfassungsschutz oder dem britischen MI5 vergleichbar wäre. Erst in jüngster Zeit wurde erstmals gefordert, dass in Österreich ein ziviler Inlandsnachrichtendienst etabliert werden sollte. Innenminister Wolfgang Sobotka hat sich dafür starkgemacht.
Schauplatzwechsel. King David Lounge am Flughafen Ben Gurion, 20 Autominuten von Tel Aviv entfernt. Es ist Ende Juli. Hier sitzt, nennen wir ihn Paul, und wartet auf seinen Flug nach Mailand. Sein Arbeitgeber ist das Pentagon. Der Amerikaner lebt und arbeitet in Italien. Irgendwo zwischen Verona und Florenz befindet sich sein Büro. Zu seinen Spezialgebieten zählt der Balkanraum. Zwei Einsätze im Vietnamkrieg bei den Special Forces, auch Green Berets genannt, hat er hinter sich. Nach seiner Zeit in Vietnam hat er bei der CIA angeheuert und wurde anfangs in den GUS-Raum geschickt. Was er dort tat, verrät er nicht.
Danach war er Ende der 1990er Jahre für einige Zeit in Wien. An die österreichische Gemütlichkeit im Umgang mit ausländischen Diensten erinnert er sich noch gut. „Nach Jahren irgendwo zwischen Moskau und Taschkent war das Leben in Wien für meine Familie und mich wie ein Paradies. Wien ist bis heute meine Lieblingsstadt“, sagt der knapp 60-jährige Mann. Vor allem das Kulturangebot bringt ihn noch heute zum Schwärmen. Nur die schlecht gelaunten Menschen – und die SWR-Agenten – würden ihm nicht abgehen. „Die Russen hatten echt überall ihre Leute sitzen. In Banken, etlichen Ministerien und bei der Polizei. Das hat sogar Berlin übertroffen.“
In unserem Video war von einer Autobombe der linksextremen Waltraud-Boock-Gruppe die Rede, die einen Menschen getötet hat. Diese Information haben wir der Global Terrorism Database entnommen. Wir wurden später darauf hingewiesen, dass es diesen Anschlag nie gegeben habe. Der Global Terrorism Database scheint hier ein Fehler unterlaufen zu sein, den wir ohne entsprechende Gegenprüfung übernommen haben: Die Datenbank weist den 22. Jänner 1977 aus, zu diesem Datum gibt es allerdings keine entsprechenden Berichte in österreichischen Medien.
Claudia Zettel von futurezone.at hat uns auf einen Bericht im Kurier vom 29. Jänner 1977 hingewiesen, demzufolge der Bombenbauer Hans Georg Wagner sich am Donnerstag, dem 27. Jänner während der Vorbereitung eines Anschlags unbeabsichtigt selbst tötete. An anderer Stelle in derselben Zeitung wird er als „SS-Waffennarr“ beschrieben. Eine APA-Meldung vom 28. Jänner bezeichnet Wagner wiederum als „politischen Wirrkopf“. In seinem Haus fand man neben Waffen auch nie abgeschickte Liebesbriefe an die deutsche RAF-Terroristin Waltraud Boock. Die Global Terrorism Database überarbeitet den Eintrag.
Um zu verstehen, wie sich der Mythos von Österreich als Ruheraum für terroristische Organisationen entwickelt hat, ist ein Blick in die Zeit Bruno Kreiskys vonnöten. Die 1970er und 1980er Jahre waren in der Sicherheitspolitik stark von der Antiterrorstrategie des damaligen Bundeskanzlers geprägt. Der Sozialdemokrat war überzeugt, dass Terroranschläge auf österreichischem Boden verhindert werden könnten, wenn man mit allen rede, notfalls auch „mit dem Teufel“. Das Credo lautete politische Zurückhaltung gegenüber extremistischen Gruppen. Das galt für das linksextremistische ebenso wie etwa für das palästinensische Spektrum. Kreisky hat direkt oder indirekt sowohl mit dem damaligen libyschen Revolutionsführer Muammar al-Gaddafi als auch mit (dem 2004 verstorbenen) PLO-Chef Jassir Arafat konferiert.
Sein deutscher Amtskollege Helmut Schmidt verfolgte hingegen in den 70er Jahren eine Politik staatlicher Härte. Seine Devise lautete: Mit Terroristen verhandelt man nicht. Diesen Standpunkt hatte der deutsche Regierungschef aber nicht von Beginn an vertreten, sondern erst als Folge von Erfahrungen, die er im Zuge der Entführung des West-Berliner CDU-Vorsitzenden Peter Lorenz gemacht hatte. Damals waren die Forderungen der Terroristen erfüllt, also Häftlinge freigelassen worden, die Täter hatten freies Geleit bekommen – und konnten ihre Terror-Aktivitäten danach unbehelligt fortsetzen.
Bei der Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer blieb Schmidt aufgrund seiner Erfahrungen unnachgiebig. Schleyer wurde ermordet.
Kreiskys politische Haltung, mit Terrorpaten direkt zu verhandeln, konnte allerdings terroristische Umtriebe auch nicht verhindern. Das zeigten Aktivitäten einzelner Terrororganisationen in Österreich. 1973 wurden jüdische Emigranten aus der Sowjetunion, die auf Durchreise nach Israel waren, auf dem Grenzbahnhof Marchegg (NÖ) von Palästinensern („Al-Saika“-Gruppe) überfallen. Die Geiselnahme endete zwar unblutig, aber Kreisky ließ das Transitlager für die Einwanderer aus der Sowjetunion schließen – eine Forderung der Terroristen. Das brachte dem Kanzler international Kritik ein.
Drei Jahre später nahmen arabische Terroristen rund 60 Menschen in der OPEC-Zentrale in Wien als Geiseln. Drei Menschen starben. Die Attentäter rund um den gebürtigen Venezolaner Ilich Ramírez Sánchez alias „Carlos“ konnten mit etwa 30 Geiseln an Bord nach Algier fliegen. Innenminister Otto Rösch verabschiedete Carlos per Handschlag.
1981 schlugen palästinensische Terroristen in Österreich zu. Ein Mitglied der Abu-Nidal-Gruppe ermordete den Wiener SP-Stadtrat und damaligen Präsidenten der Österreichisch-Israelischen Gesellschaft, Heinz Nittel, vor dessen Haus in Hietzing.
Im selben Jahr wurde ein Anschlag auf die Synagoge in Wien verübt. Vier Jahre danach traf es Passagiere vor dem El-Al-Schalter am Flughafen Wien-Schwechat. Die Folge: Vier Tote, fast 40 Verletzte. Auch in diesem Fall fanden Gespräche mit den Drahtziehern statt. Chef-Verhandler war Oswald Kessler, der damalige Chef der Staatspolizei (Stapo).
Zurück ins Jahr 2017. Es ist Mitte September. In der Lobby eines Wiener Ringstraßenhotels treffen wir Jacob T. Seit 20 Jahren ist er in der Welt der Geheimdienste unterwegs, einer dieser Schattenmenschen also. Für ein kleines Land am Mittelmeer war er jahrelang operativ im Außendienst tätig. Sein Fachgebiet ist bis heute die technische Aufklärung geblieben. Die Kommando-Einsätze bestritten sechsköpfige Teams. Gemeinsam stiegen sie in Wohnungen und Häuser ein, brachen Autos auf, um Abhörgeräte installieren zu können. Dann folgten tage-, manchmal wochenlange Observationen. Zielpersonen waren Libanesen, Iraner, Syrer. Jacob T.s häufige Ortswechsel führten ihn aber auch in die Schweiz und nach Österreich.
Auf die gegenwärtige Sicherheitslage in Europa angesprochen, hält er fest: „Die Lage ist de facto unberechenbar, eine gemeinsame Beurteilung der Gefährdungslage ist praktisch unmöglich, weil jedes EU-Land seine eigene Suppe kocht. So ergibt sich nie ein einheitlicher Informationsstand.“ Damit sind die nationalen Geheimdienste gemeint, die einer verstärkten Kooperation auf europäischer Ebene ablehnend gegenüber stehen. „Bei den Diensten gibt es unterschiedliche Kulturen, unterschiedliche gesetzliche Kompetenzen. Sie zählen zum Kernbereich nationaler Souveränität. Da rückt keiner mehr Informationen raus, als für die eigene Arbeit gebraucht werden. Schon gar nicht die großen Staaten.“ Der etwa 50-Jährige prangert die Löchrichkeit der EU-Außengrenzen an: „Mag sein, dass in letzter Zeit Fortschritte bei der Grenzsicherung erzielt wurden, aber grundsätzlich ist es immer noch möglich, inkognito in die Europäische Union einzureisen und im Schengen-Raum unterzutauchen. Grenzkontrollen auf der Autobahn sind Beruhigungspillen für die Bevölkerung, wenn ich auf der Landstraße oder an Bahnhöfen keine mache.“
Die Bedrohungslage für Österreich sieht er nicht auf einer Stufe mit Belgien oder den Niederlanden; aber mit Schweden. Gefährlich seien aber nicht nur salafistisch-dschihadistische Zellen, selbst die Hisbollah würde in Zukunft noch für Aufregung sorgen, prophezeit der Geheimdienst-Offizier.
Aus seiner Sicht dient Österreich für eine Vielzahl an terroristischen Netzwerken und Organisationen bis heute als „Naherholungsgebiet“, aber nicht als primäres Angriffsziel. „Egal ob es sich um kurdische Anhänger der PKK, Muslimbrüder oder um Agenten des iranischen Regimes handelt – sie schlafen bis heute ungestört in Wien.“
Aktualisiert am 6. Oktober 2017 (Korrektur Jahreszahlen)