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Was Österreich von Tel Aviv lernen kann
8. Oktober 2017 Terrorismus Lesezeit 7 min
Seit Jahrzehnten lebt man in Tel Aviv mit der ständigen Gefahr, Opfer eines Terroranschlags zu werden. Wie die Europäer mit dem Terrorismus umgehen, verwundert in Israel viele. Sicherheit bringe jedenfalls Freiheit, sagen viele Israelis.
Dieser Artikel gehört zum Projekt Terrorismus und ist Teil 14 einer 16-teiligen Recherche.
Bild: Peter Mayr | Addendum

Sommer in Tel Aviv. 34 Grad. Am Strand graben Kinder im Sand. Ein paar Burschen spielen Beachvolleyball. Ein Bild der Idylle. Doch in der pulsierenden 430.000-Einwohner-Stadt am östlichen Mittelmeer gehört der Terror, so wie in anderen Teilen des Landes, zum Alltag. Die Menschen, die in Israel leben, gehen ganz unterschiedlich mit der Dauer-Bedrohung um, je nachdem, wo sie leben. In Jerusalem wird gebetet. In Haifa wird gearbeitet. Und in Tel Aviv wird gelebt, sagen die Israelis.

Und in Tel Aviv wird auch dann gelebt, wenn Raketen aus dem 60 Kilometer entfernten Gazastreifen Richtung Stadt abgefeuert werden. Man interessiert sich nicht für Vergangenes oder Künftiges, sondern für den kommenden Abend; das ist die Stimmung in den vielen Lokalen. Alles andere regelt in den Augen der Menschen der Iron Dome, ein Raketenabwehrsystem, oder der Inlandsnachrichtendienst Shin Bet.

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Israel als Testgelände für globalen Terrorismus

Israel hat immer wieder lernen müssen, sich den sich ständig ändernden Rahmenbedingungen anzupassen. Neben der geostrategischen Bedrohungslage durch die unmittelbare Nachbarschaft mit dem Libanon, mit Syrien, Jordanien, Ägypten und dem Gazastreifen waren es seit den 1960er Jahren Terroranschläge im eigenen Land, die eine permanente Weiterentwicklung der Strategien zur Überlebensfrage gemacht haben. Ein direkter Vergleich der israelischen Bedrohungslage mit der gegenwärtigen Sicherheitslage in Europa und Österreich scheint daher wenig zielführend. Der Großteil der israelischen Antiterrorpolitik beschäftigt sich mit der Bekämpfung palästinischer Gewalt im Westjordanland. Aber die terroristische Bedrohungslage in Tel Aviv ist sehr wohl mit jener in Wien und Berlin vergleichbar, und damit sind es auch die sicherheitspolitischen Herausforderungen, vor denen die Sicherheitskräfte da wie dort stehen.

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Ein UN-Soldat am Beobachtungspunkt Mount Bental in Golan Heights an der syrischen Grenze

Israel ist seit seiner Gründung gewissermaßen Testgelände für neue Modi Operandi im Terrorismus. Von Angriffen auf Flughäfen über Flugzeugentführungen, Kidnapping und Geiselnahmen bis hin zu Selbstmordanschlägen mit Bulldozern und Lkws: Terroranschläge in Israel oder gegen jüdische Einrichtungen im Rest der Welt haben stets die Entwicklungen im internationalen Terrorismus bestimmt.

Zwei Terroranschläge waren besonders bedeutsam:

Am 30. Mai 1972 war der Flughafen Lod, der internationale Airport von Tel Aviv (heute Ben Gurion), Schauplatz eines Massakers. Drei Terroristen, Mitglieder der Japanischen Roten Armee, feuerten im Auftrag der PLO aus Sturmgewehren wahllos in die Menge. 26 Menschen wurden getötet.

Der Anschlag veränderte vieles. Ben Gurion gilt seither als der sicherste zivile Flughafen der Welt, weil er von mehreren elektronischen „Sicherheitsringen“ umgeben ist. Die erste Kontrolle beginnt bereits vier Kilometer vor dem Abflugterminal. Jedes Auto wird dort angehalten, fast alle Insassen werden befragt. Vor der Gepäckaufgabe im Terminal werden Fluggäste nochmals ausführlich verbal abgeklopft. Speziell geschulte Sicherheitsbedienstete stimmen ihre Befragungen ganz speziell auf jede Person ab. Die Mitarbeiter achten besonders auf nonverbale Signale der Passagiere.

Die israelische Fluglinie El Al setzt ihr Sicherheitspersonal auch auf ausländischen Flughäfen ein, und in jedem Flugzeug sind seit den Entführungen der 1970er Jahre Sky Marshalls an Bord. Durch dieses engmaschige Sicherheitsnetz konnte 1986 eine Katastrophe verhindert werden: Auf dem Flughafen London-Heathrow entdeckten israelische Sicherheitskräfte beim Check-in für einen Flug nach Tel Aviv eine mit Zeitzünder versehene Bombe. Ein jordanischer Terrorist hatte sie im Gepäck seiner schwangeren Freundin, eines ehemaligen Zimmermädchens, versteckt. Die Irin wusste nichts davon, dass sie und ihr ungeborenes Kind Tel Aviv nie erreichen hätten sollen.

Ein Terroranschlag, der weitreichende Konsequenzen hatte – nicht nur für Israel –, ereignete sich am 11. November 1982. An diesem Tag sprengte sich der 15-jährige Ahmad Qusayr mit einer Autobombe vor einem israelischen Verwaltungsgebäude in der libanesischen Stadt Tyros in die Luft und legte damit das Gebäude in Schutt und Asche. Er hatte zuvor eine Einschulung durch die iranischen Revolutionsgarden erhalten. Teheran hatte einen Helden, für Israel war es der Ausgangspunkt einer Blutspur. Damit bahnte sich der islamistisch motivierte Märtyrerkult durch Selbstmordattentate seinen Weg vom Iran unter Ajatollah Chomeini über den Libanon nach Israel. Bis heute.

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„Man kann von einem Wettbewerb zwischen Terroristen und Terrorbekämpfern sprechen“, sagt der israelische Sicherheitsexperte Boaz Ganor. Der Gewinner, so Ganor, sei der, der die steilere Lernkurve aufweisen könne. So haben in Tel Aviv Metalldetektoren und Kontrollen an Eingängen dafür gesorgt, dass es weniger Bombenanschläge mit Zeitzündern gibt. Im Gegenzug haben aber Selbstmordattentate stark zugenommen. Die Anschläge sind blutiger geworden. Selbstmordattentäter können viel autonomer und flexibler auf die sich ändernden Rahmenbedingungen reagieren. Terroristen seien rational handelnde Akteure, sagt Ganor.

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Golan (Bild: Addendum) Golan (Bild: Addendum)
Metulla an der Grenze zum Libanon vom Dado Lookout

„Das Schlimmste liegt noch vor uns“

Allein für das Jahr 2016 hat der israelische Inlandsnachrichtendienst Shin Bet rund 400 vereitelte Terroranschläge offiziell bestätigt. Ein mit dem Sicherheitsapparat im Land vertrauter Insider berichtet, diese Zahl müsse noch um einiges nach oben revidiert werden, um mindestens ein Drittel. Der Grund dafür sei, dass der Shin Bet in einer ersten Phase versucht, gescheiterte Attentäter im Falle einer Festnahme „umzudrehen“, also für eigene Zwecke zu gewinnen. Offensichtlich gelingen diese Transformationen vom Terroristen zum israelischen Spion sehr häufig, publik gemacht werden sie freilich nicht.

Trotz all dieser Abwehrmechanismen meint Nitzan Nuriel, der ehemalige Chef des israelischen Büros für Terrorismusbekämpfung (DCTB) und Mitglied des nationalen Sicherheitsrates: „Der Terrorismus wird für immer ein Teil von uns bleiben, ein Teil der israelischen Gesellschaft. Das Schlimmste steht uns noch bevor.“ Er verweist insbesondere auf die Weiterentwicklung und Verbreitung neuer Technologien. Es sei immer leichter und günstiger, an Mini-Drohnen zu kommen. Und mit 3D-Druckern könnten mittlerweile sogar Schusswaffen hergestellt werden.

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Terrorismusbekämpfung durch Normalität

Eine israelische Antwort auf den permanenten sicherheitspolitischen Ausnahmezustand ist in der dort ansässigen Sicherheitsindustrie zu finden. Viele in Tel Aviv haben Freunde, Bekannte und Familienangehörige im zivilen wie militärischen Sicherheitsbereich. Allein der mehrjährige, für Frauen und Männer verpflichtende Wehrdienst prägt die Lebensläufe vieler Menschen nachhaltig. Der Weg führt nicht selten vom Militär in den Sicherheitssektor. Das Zentrum des militärisch-industriellen Komplexes liegt im Speckgürtel von Tel Aviv. Die dort entwickelte Sicherheitstechnik wird in die ganze Welt verkauft. Das bringt jährlich neun Milliarden US-Dollar ein. Spitzentechnologie zur Terrorbekämpfung war nie so gefragt wie heute. Auf israelischen Sicherheitsmessen lassen sich regelmäßig die neuesten Entwicklungen auf diesem Sektor begutachten. Die Palette reicht von Radarsystemen zur Identifizierung von Mini-Drohnen bis zu Softwarelösungen für die Fahndung nach Terrorverdächtigen.

Auch die Sicherheitsberatung boomt. Viele ehemalige Angehörige einer der vielen zivilen wie militärischen Sicherheitsbehörden machen sich nach ihrer aktiven Zeit selbstständig und lassen ihr Know-how Regierungen und Unternehmen weltweit zukommen. Einer von ihnen ist General Nitzan Nuriel. Er berät französische Kommunen wie Nizza und Cannes seit den Anschlägen in Frankreich in Präventionsfragen. „Eine der effektivsten Waffen im Kampf gegen den Terrorismus ist die Rückkehr zur Normalität innerhalb von drei Stunden“, verweist Nuriel auf den israelischen Umgang mit Terroranschlägen. „Es war nach den Anschlägen von Brüssel ein fatales Signal, den Flughafen für drei Wochen zu sperren und in den Straßen gepanzerte Fahrzeuge patrouillieren zu lassen.“

Das derzeit vieldiskutierte terroristische Phänomen des „einsamen Wolfs“ erscheint dem israelischen Terrorexperten Gal Hirsch, Direktor einer privaten Sicherheitsfirma, einigermaßen bewältigbar. Jeder Täter habe ein privates oder familiäres Umfeld, er tätige logistische Vorbereitungshandlungen und sende entsprechende Signale an seine Umgebung aus. Diese, so Hirsch, gelte es rechtzeitig abzufangen: durch technische Überwachung oder durch klassische Observierung, in Ausnahmefällen durch Administrativhaft, das Festhalten ohne Anklage.

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Was Wien lernen kann

Wird in Österreich über neue Sicherheitsstrategien nachgedacht, kommt unverzüglich die Kritik, das Land dürfe nicht zu einem Überwachungsstaat verkommen. Doch nicht jedes Zugeständnis an eine neue Sicherheitspolitik, sagen in Israel selbst Linke und Liberale, sei ein Todesstoß für die Demokratie. Für die Menschen in Tel Aviv sind die Antiterrormaßnahmen unbequem, aber die Einschränkungen der persönlichen Freiheit werden toleriert, solange sie der Sicherheit dienen.

Welche Erkenntnisse ergeben sich aus den Erfahrungen, die bei der Terrorismusbekämpfung im urbanen Tel Aviv gemacht werden, für Österreich?
Zu martialisches Auftreten von bewaffnetem Sicherheitspersonal an Flughäfen und anderen neuralgischen Punkten bringt keine signifikante Steigerung an Sicherheit. Eher im Gegenteil: Solche Maßnahmen tragen zu mehr Verunsicherung in der Bevölkerung, nicht aber zur Abschreckung von Terroristen bei.

In den Straßen von Tel Aviv patrouillieren keine gepanzerten Militärfahrzeuge. Die Sicherheit wird auch hier durch die Polizei gewährleistet, das Militär hat im Inland keine Zuständigkeit. Außergewöhnlich ist allerdings: Im Schnitt führt jeder zweite Israeli eine Waffe mit sich. Die meisten sind Militärangehörige und Mitarbeiter privater Sicherheitsdienste. Entsprechend rasch werden Terroristen daher zur Strecke gebracht. Wird damit Europa und auch Österreich ein liberaleres Waffenrecht nahegelegt? Das empfehlen zumindest israelische Terrorexperten und verweisen auf die Anschläge von Paris. „So ein Szenario wäre in Israel schneller beendet worden“, sagt ein Insider. Dass die rechtlichen Bestimmungen für Waffen in Europa entschärft werden, ist allerdings unwahrscheinlich. Die EU hat sie erst kürzlich verschärft.

Video-Aufzeichnungen

Welchen Nutzen bringen Video-Aufzeichnungen? Für eine Antwort auf diese Frage lohnt sich ein Blick nach Tel Aviv. Die flächendeckende Überwachung via Kameras kann nur dann Terroranschläge verhindern, wenn sie durch ausreichend geschultes Personal in Echtzeit durchgeführt wird, betonen israelische Sicherheitsfachleute. Wobei sich für Österreich besonders die Frage stelle, ob ein derart kostenintensiver Aufwand den gewünschten Nutzen erzielen könne.

Vielversprechender sei eine andere Methode. Die israelischen Dienste zählen weltweit zu den effektivsten bei der Terrorismusbekämpfung. Im Fokus der Arbeit des Shin Bet, dem Inlandsnachrichtendienst, stehen der Aufbau und die Führung von Quellen zur Informationsgewinnung. Die verantwortlichen Stellen in Österreich, meint Boaz Ganor, sollten sich nicht nur auf technische Überwachung verlassen. Wichtiger sei beispielsweise, verstärkt unter den neu angekommenen Flüchtlingen Informanten zu finden, um frühzeitig Gegenmaßnahmen ergreifen zu können. Conclusio des Terrorexperten: „Wir haben in Israel die richtige Balance zwischen gesellschaftlicher Freiheit und den individuellen Freiheitsrechten gefunden. In Europa muss man das noch lernen. Auch in Österreich.“ 

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