„Hey, liebe IKEA-Kunden …“ Diese Geschichte führt weit weg von den Ballungszentren, in denen sich die Einrichtungshäuser der Schweden befinden und beginnt mit einem Rätsel. Man folgt ihm, wenn man die „Wohnst du noch oder lebst du schon“-Musterwohnungen hinter sich lässt, auch die acht Stück Köttbullar mit Kartoffelpüree, Erbsen und Preiselbeeren um 4,99 Euro verweigert und sich an Decke Gurli, Lampe Lersta und Geschirrset Färgrik vorbei ins eigentliche Herz des Möbelhauses drängt.
Dort, im zentralen Mitnahmelager, stapeln sich in langen Gängen die Kartons mit den Möbelteilen, aus denen, Geschick und Geduld vorausgesetzt, daheim das entsteht, was im Schauraum ausgestellt ist.
Das dafür verwendete Holz stammt zu 60 Prozent aus Osteuropa und Russland. Schon lange vor der Wende war es für die Schweden attraktiv, wenngleich nicht immer unter rühmlichen Voraussetzungen, zeigte sich doch, dass IKEA etwa Möbel aus der DDR bezog, die von politischen Häftlingen gezimmert worden waren.
Wer heute herausfinden will, woher sein Möbelstück kommt, stößt auf besagtes Rätsel. Denn auf den Schachteln ist zwar das Herkunftsland vermerkt, nicht aber der Produzent. Neben den 28 IKEA-eigenen Fabriken, von denen sich 21 in Osteuropa befinden, stammt der Großteil der Ware von mehr als 1.800 Zulieferfirmen aus etwa 50 Ländern. Wer von ihnen was und wo produziert, zählt zu den bestgehüteten Geheimnissen der Branche. Eine fünfstellige Zahl auf den Schachteln bezeichnet zwar intern den jeweiligen Hersteller.
Das System dahinter bleibt für Außenstehende aber undurchschaubar. Es grenzt daher meist an ein aussichtsloses Unterfangen, IKEA die konkrete Herkunft des Holzes nachweisen zu wollen, das für einzelne Möbelstücke verwendet wird. Genau das ist aber das Ziel dieser Recherche.
758 Euro gibt jeder Österreicher im Schnitt pro Jahr für neue Möbel aus. Es ist ein gewaltiger Markt, der von der Beraterfirma RegioData auf 5,4 Milliarden Euro geschätzt wird und in dem IKEA ein Phänomen der Superlative darstellt. Denn während die Marktführer XXXLutz und Kika/Leiner mit Preisschlachten um Kunden werben und das Land mit einer Vielzahl von Filialen überziehen, halten die Schweden mit gerade einmal acht Standorten einen Marktanteil von 16 Prozent und sind die Nummer 3 in Österreich. Pro Quadratmeter Verkaufsfläche verdienen sie dreimal so viel wie ihre Mitbewerber.
Das minimalistische schwedische Design und die Lust am Selberzusammenbauen mögen zwei Gründe für den Erfolg sein. Ein dritter, wohl weitaus triftigerer, wird seltener erwähnt: Es ist IKEAs einzigartige Fähigkeit, aus Bäumen Möbel zu machen, und das so schnell, billig und in rauen Mengen wie keine andere Firma jemals zuvor.
Die größte Möbelkette der Welt ist mit einem Jahresumsatz von 39 Milliarden Euro auch der weltweit größte Verbraucher von Holz. 60 Prozent aller IKEA-Produkte bestehen daraus. Innerhalb der vergangenen zehn Jahre hat sich der Holzbedarf des Konzerns verdoppelt und stieg 2019 auf 21 Millionen Kubikmeter.
Um sich diese Menge vorzustellen, hilft der Vergleich mit einer 80 Quadratmeter großen Wohnung, die vom Boden bis zur Decke mit Baumstämmen vollgestapelt ist. IKEAs Jahresverbrauch an Holz würde knapp 110.000 solcher Wohnungen füllen. So viele gibt es etwa in einer Stadt wie Linz. Und jedes Jahr steigt der Bedarf um weitere 13.000 solcher mit Holz vollgeräumter Wohnungen.
Diese Geschichte führt dorthin, woher ein Teil dieses Holz stammt. Sie erzählt davon, unter welchen Bedingungen es geschlagen wird, und beschreibt, was in diesen abgelegenen Gegenden an Gier, Gewalt und Zerstörung geschieht, aber verborgen bleibt.
Recherchen mit der renommierten britischen Non-Profit-Stiftung Earthsight, die sich seit Jahren mit Umweltkriminalität beschäftigt, bringen ein Bild zum Vorschein, das dem schwedischen Giganten mit dem coolen Image wenig schmeichelt. Es zeigt die Verwerfungen, die dabei entstehen, wenn der stetig steigenden Nachfrage nach mehr und günstigerem Holz nachgekommen wird.
Dieses Bild steht im Widerspruch zu Fotos von beruhigend wirkenden Wäldern, die der Konzern aktuell in seinen Filialen plakatiert. Auf ihnen ragen Baumriesen in den Himmel und bilden ein grünes Dach, unter dem ein Mann mit Hut, es dürfte wohl ein Förster sein, geruhsam durch das Laub wandert. „Wir arbeiten zusammen für die Zukunft unserer Wälder“, steht darüber.
Der Möbelkonzern spricht zuletzt gern und viel von Verantwortung und Nachhaltigkeit, preist seine Kooperation mit dem FSC-Gütesiegel und verbindet damit eine Botschaft: Noch heuer sollen 100 Prozent des von IKEA genutzten Holzes FSC-zertifiziert und damit absolut sauber sein – „forest positive“, wie es der Gigant nennt. „Das tun wir“, heißt es auf der Website, „um Abholzungen entgegenzuwirken und auch andere in dieser Hinsicht zu beeinflussen.“ Schöne Worte, die der Wirklichkeit nicht immer gerecht werden.
Das Forest Stewardship Council (FSC) ist ein freiwilliges, privates Zertifizierungssystem und wurde 1993 mit dem Ziel der nachhaltigen Nutzung der Wälder gegründet. Dadurch soll sich die ökonomische, ökologische und soziale Funktion der Forstwirtschaft verbessern. Vertreter der Forstindustrie, von Umweltschutzorganisationen und sozialen Gruppen wie Gewerkschaften oder Vereine indigener Völker sind zu gleichen Teilen stimmberechtigt.
Das Zertifikat können sowohl Forstbetriebe nützen als auch Unternehmen, die Holz verarbeiten. Aktuell sind mehr als 200 Millionen Hektar Wald FSC-zertifiziert, was ungefähr 10 Prozent der gesamten Waldfläche der Erde entspricht. Die größten Flächen FSC-zertifizierter Wälder liegen in Russland und Kanada. Österreich hat mit weniger als einem Prozent europaweit den geringsten Anteil. Die Vertretung heimischer Waldbesitzer wehrt sich gegen den FSC und sieht in dem System hohe Kosten, die keinen Mehrwert böten.
Besonders Besitzer kleinerer Waldflächen sehen sich unter Druck gesetzt. Kritiker orten im FSC eine marketing-getriebene Täuschung. Sie werfen ihm vor, gerade in den Tropen, wo Wälder am bedrohtesten sind, zu keiner Verbesserung beizutragen. Weil FSC-zertifizierte Urwälder weiter abgeholzt würden, stieg 2018 die NGO Greenpeace aus dem FSC aus. Als prominente Umweltschutzorganisation verblieb der WWF, da er im FSC weiterhin den bestmöglichen vorhandenen Standard sieht, fordert aber regelmäßig Verbesserungen ein.
Mehr über das FSC-Zertifikat erfahren Sie in diesem Video.Ausgehend von den 12.000 Artikeln, die IKEA in seinem Sortiment führt, gilt es, einer Spur zu folgen, einen dieser Codes zu knacken und eine Reise anzutreten, die exemplarisch eine solche Lieferkette preisgibt. So führt der Weg in den Norden Rumäniens, in eine Region namens Maramuresch, die für ihre pittoresken Holzkirchen bekannt ist. Am Rande eines Ortes dehnt sich eine Fabrik aus, bemalt im IKEA-typischen Blau und Gelb: Plimob.
Schon seit mehr als 30 Jahren produziert die Firma fast ausschließlich für IKEA. Der Legende nach soll noch dessen Gründer Ingvar Kamprad den Deal mit den Rumänen eingefädelt haben. Seither werden dort Sessel hergestellt, und jeder, der schon einmal bei IKEA auf der Suche nach solchen war, wird diese kennen. Der Terje etwa, ein simpler Klappstuhl, der seit Jahren für 12,99 Euro angeboten wird, gleicht einer Ikone und zählt zu IKEAs absoluten Bestsellern. 1,5 Millionen Stück davon produziert Plimob jedes Jahr. Hinzu kommen beliebte Esstischstühle wie Norrnäs, Ekedalen oder Ingolf. Sie alle stehen in österreichischen IKEA-Filialen zum Verkauf und sie alle tragen den Code, der zu Plimob führt. „Made in Romania“ ist auf den Schachteln vermerkt. Doch das ist nur ein Teil der Wahrheit.
Möbelhersteller Plimob in Rumänien
Video: Earthsight
Denn Plimob hat ein Problem. Die Schweden, die steuerlich in Wirklichkeit längst Holländer sind verlangen, die Produktionskosten niedrig zu halten. Immerhin sollen Stühle als Lockangebote billig bleiben und in gewaltiger Zahl in den weltweit 433 IKEA-Filialen verfügbar sein. Doch selbst in Rumänien, dessen Forstwirtschaft von mafiösen Strukturen durchzogen ist , steigen die Kosten. Der dortige Raubbau an den Wäldern hat in letzter Zeit Widerstände geweckt, sodass Holz in rauen Mengen zu günstigen Preisen rarer geworden ist.
Eine gut verborgene Antwort auf die Not zeichnet sich beim Blick aus den Fabrikfenstern von Plimob ab. Dort tauchen im Norden dicht bewaldete Berge am Horizont auf. Es sind die Karpaten, und sie liegen nur ein paar Kilometer Luftlinie entfernt. Dazwischen plätschert die noch junge Theiß dahin, der längste Zufluss der Donau. Sie trennt an dieser Stelle Rumänien von der Ukraine. Eine schmale Brücke führt über den Fluss.
Täglich überqueren sie Laster vollbeladen mit Buchenholz, das zur Endfertigung von Sesseln bei Plimob landet. Folgt man den leeren Lkw zurück in die Ukraine, endet die Fahrt nur 18 Kilometer von der Plimob-Fabrik in einem verschlafenen Städtchen namens Welykyj Bytschkiw. Alles hier wirkt sogleich wilder, ein wenig verwahrloster und auch ärmer als auf der anderen Seite, im EU-Land Rumänien.
Bereits 2014 enthüllten die Luxemburg-Leaks-Papiere, wie verschachtelt das IKEA-Imperium ist. Ein Gewirr von Offshore-Oasen dient der Steuervermeidung. Seit zwei Jahren laufen deswegen Ermittlungen der EU-Wettbewerbshüter. Der Vorwurf lautet, dass die einzelnen IKEA-Gesellschaften Teile ihres Gewinns in Form von Lizenzgebühren zu einer Tochtergesellschaft in den Niederlanden schicken. Diese holländische Tochter leistet wiederum hohe Rückzahlungen für ein Darlehen, das sie bei einer IKEA-eigenen Stiftung in Liechtenstein genommen hat, sodass in den Niederlanden kaum Geld zum Besteuern bleibt.
Schätzungen zufolge könnte sich IKEA durch diesen Trick allein zwischen 2009 und 2014 eine Milliarde Euro legal an Steuern gespart haben. Da die Niederlande dieses Modell erlauben, prüft die EU-Kommission, ob sich IKEA dadurch einen „unfairen Vorteil gegenüber anderen Unternehmen“ verschafft hat.
VGSM heißt die ukrainische Möbelfabrik, zu der die Lkw fahren. Bis 1998 stand sie direkt im Besitz der IKEA-Firma Swedwood, die sie nach Fällen von Korruption zusperrte. Als ukrainisches Unternehmen wiedereröffnet, arbeiten heute dort 400 Mitarbeiter in zwei Schichten. Eine Drohne, die von den Rechercheuren von Earthsight in die Luft gebracht wird, kreist über dem Areal der Firma und filmt Lager voller Buchenstämme. 40.000 Kubikmeter Holz pro Jahr machen VGSM zu einem der größten Verarbeiter der Region. Earthsight zugänglich gemachte Zolldokumente, die auch Addendum vorliegen, zeigen, dass fast die gesamte Produktion der Fabrik ultimativ für IKEA bestimmt ist.
Ein Teil des Holzes geht direkt an die Schweden. Die größte Menge nimmt aber den Umweg über Rumänien und Plimob, bevor es in Form von Sesseln „Made in Romania“ in die IKEA-Filialen gelangt. Die Daten belegen, dass Plimob jedes Jahr zwei Millionen Stühle an IKEA liefert. Die Hälfte des dafür genutzten Holzes stammt von VGSM und damit aus ukrainischen Wäldern.
Holzzulieferer VGSM in der Ukraine
Video: Earthsight
Dieses Muster der Vorwürfe setzt sich auch außerhalb der Ruheperiode bei den Holzkäufen des IKEA-Zulieferers VGSM von den regionalen Staatsforstbetrieben fort. Eine von Earthsight kommissionierte Studie über den Sommer 2019 zeigt, dass sie in sechs von zehn Fällen gegen Auflagen verstießen. Das Protokoll dieser Studie reicht von unbegründeten Sanitärhieben über Einschlag außerhalb markierter Zonen bis zum verbotenen Abtransport der Stämme durch Flussbetten, was diese zerstört zurücklässt. Man braucht gar kein allzu überzeugter Naturschützer sein, um zu erkennen, dass ein solches Verhalten diesen Lebensraum langfristig gesehen vernichten wird.
Was in den Wäldern der Ukraine geschieht, ist aber weder Zufall, ein Versehen, das Versagen Einzelner noch die sporadische Tat kleiner Gruppen, die sich etwas dazuverdienen wollen. Der kriminelle Raubbau hat nach Ansicht von Earthsight offensichtlich System. Das bestätigt sich bei Einbruch der Nacht, als im Dunkel eines Forstwegs tief in den Karpaten ein Schranken mit Stopp-Schild auftaucht. Dahinter beginnt das Revier eines dieser regionalen Staatsforstbetriebe.
Ein Mann, der seit zehn Jahren für sie arbeitet, bittet in eine Blockhütte. Er nennt seinen Namen und seine Funktion, versichert sich erst bei den Anwesenden, dass sie vertrauenswürdig sind, sie ihm Anonymität zusichern, und beginnt dann zu berichten. Ein solcher Whistleblower aus dem Inneren dieser Strukturen ist enorm selten, da er mitunter sein Leben riskiert für die Einblicke, die erst begreifen lassen, was in den Wäldern wirklich vor sich geht. Der Mann schildert, wie bei jeder einzelnen Rodung getrickst wird: „Heißt es etwa, dass wir 200 Kubikmeter einschlagen sollen, machen wir daraus 100 mehr, indem wir einfach die Grenzen des Gebiets erweitert markieren. Von dem, was wir so zusätzlich aus dem Wald holen, bleibt eine Lkw-Ladung bei uns Holzfällern, die andere nimmt sich der Förster.“ Inspektoren würden, wenn sie denn überhaupt auftauchen, häufig geschmiert und das illegale Holz schwarz an Firmen weiterverkauft. Die dafür nötigen Papiere gebe es gleich dazu. Um an diese zu gelangen, seien 500 Griwna, umgerechnet 16 Euro, pro Kubikmeter Holz fällig. Wer diese Papiere in Händen hält, hat wie von Zauberhand aus illegal geschlagenem Holz legales gemacht.
In den Büchern würden solche Deals auch gern über „Geisterförster“ abgewickelt. Damit sind bereits verstorbene Kollegen gemeint, die weiter in den Personalakten stehen. Eine Lkw-Ladung legalen Holzes umfasst 20 Kubikmeter und kostet 35.000 Griwna (1.160 Euro), dieselbe Menge an Schwarzholz hingegen nur 20.000 (660 Euro). Alle Männer in der Forstgesellschaft seien Teil dieses Systems, weil der Lohn niedrig und der Druck zu gehorchen groß sei. Selbst wenn einer aussteigen wolle, habe er keine Chance: „Jeder fürchtet sich. Sie würden dich rauswerfen und danach auffressen.“ Man sieht dem Mann die Angst an, aber auch das Bedürfnis, all das zu berichten. Warum aber wagt er es? Wieso spricht einer aus der Mitte dieser staatlichen Holzmafia? „Weil ich diese Ungerechtigkeit nicht länger aushalte“, sagt er, „sie sind so gierig, sie kriegen niemals genug, versuchen, so viel wie möglich einzuheimsen. Es ist schrecklich, und es war noch nie so schlimm.“
Der regionale Staatsforstbetrieb, für den der Informant arbeitet, ist wie 90 Prozent der Wälder in den ukrainischen Karpaten FSC-zertifiziert. Innerhalb von nur fünf Jahren hat sich die Zahl der FSC-Wälder in der Ukraine verfünffacht. Dieses rasante Wachstum spiegelt den Druck wider, Holz aus der korruptionsverseuchten Forstwirtschaft des Landes mithilfe des Siegels für den Export in die EU unbedenklich zu machen. Ein zentrales Versprechen des FSC-Zertifikats besteht jedoch darin, regelmäßig die Einhaltung aller Gesetze zu überprüfen und somit illegales Fällen auszuschließen. Was das in der Praxis der Staatsforste in den Karpaten bedeutet, umschreibt der Informant mit dem Wort „Maskenball“: „Wenn diese FSC-Inspektion einmal im Jahr stattfindet, wird uns vorher komplett neues Arbeitsgewand ausgeteilt, Handschuhe, Hosen, Helme, und wir stehen da wie Clowns. Alles soll so wirken wie in Europa. Und kaum sind die Inspektoren weg, nehmen uns die Chefs die Sachen wieder ab.“ Allzu viel von dem, was abseits dieser Show im Wald passiert, würden die Kontrolleure des FSC nicht mitbekommen. Eigenständiges Erkunden wird nicht geduldet und auch gar nicht versucht, laden doch die Forstchefs ihre Gäste lieber zum Feiern in die Datscha des Reviers. „Bei Wodka und Schaschlik“, wie der Informant sagt, verschwinde rasch der Wunsch, den Dingen allzu sehr auf den Grund zu gehen.
Wie gravierend das FSC-Siegel an der ukrainischen Realität scheitert, zeigt die Tatsache, dass sowohl der IKEA-Zulieferer VGSM als auch die regionalen Staatsforstbetriebe, von denen die Firma Holz bezieht, allesamt FSC-zertifiziert sind. Obwohl der Großteil der hier erwähnten Verfehlungen in der Lieferkette von der staatlichen Umweltaufsicht der Ukraine dokumentiert ist, fiel den FSC-Prüfern bei ihren Kontrollen entweder nichts davon auf oder es schien sie nicht sonderlich zu kümmern. Hinterfragenswert erscheint das, da es sich nicht um einmalige Verstöße handelte, sondern sich diese Jahr für Jahr wiederholten.
Interessant sind daher die Stellungnahmen der einzelnen Glieder dieser Kette, bei denen sich Widersprüche auftun. Erst beruft sich die Firma VGSM gegenüber Earthsight auf eine unklare Gesetzeslage, die Rodungen auch während der Ruhezeit ermöglicht hätte. Weiter heißt es, dass von der Umweltinspektion, die diese als illegal klassifizierte, ja keine Strafen verhängt worden seien. VGSM halte sich an alle Gesetze und FSC-Standards, verstünde aber, „dass es einen europäischen ökologischen Standpunkt gibt, wonach Holz, das durch Bruch einer Vorschrift geerntet wird, als illegal gilt“.
Auf Anfrage von Addendum stand IKEA-Österreich-Geschäftsführer Alpaslan Deliloglu für eine Stellungnahme nicht zur Verfügung. Die IKEA-Zentrale vermittelte stattdessen deren globalen Forstmanager Ulf Johansson für ein Gespräch. Der sieht die Vorwürfe als „aus dem Kontext gerissen“, es gebe „kein Indiz für illegalen Einschlag oder anderes illegales Verhalten”. Auf den Einwand, dass die staatliche Umweltinspektion aber genau solches feststellte, reagiert er ausweichend. Aus seiner Sicht würde das Gesetz der Forstgesellschaft vorschreiben, nur einen Teil des Waldes von Fällungen während der Ruhezeit auszunehmen, überall sonst sei Einschlag möglich. Das würde auch FSC bestätigten, „und das ist das robusteste und glaubwürdigste Zertifizierungssystem auf dem Markt“.
Doch genau FSC hält wiederum in einer bereits zuvor an Earthsight ergangenen Stellungnahme fest, dass „die Ruheperiode auf alle Forstgebiete angewendet wird, unabhängig der Verbreitung von Tieren“. Angesprochen darauf, dass selbst FSC seine Argumentation nicht teilt, wirkt Johansson überrascht und sagt: „Ja, wir müssen mit FSC noch einmal darüber sprechen, denn dieses Holz ist FSC-zertifiziert, und es ist das System, dem wir vertrauen.“ Nach diesem Interview langt bei Addendum eine Stellungnahme von FSC ein, worin es eine 180-Grad-Wendung vollzieht und plötzlich erklärt, dass das Gesetz „offen für Interpretationen“ sei, Einschlag erlaubt wäre und daher „die Firma nichts falsch gemacht hat“. Man würde nun weitere Untersuchungen vornehmen, um wegen der Gesetzeslage Klarheit zu schaffen.
Skeptisch macht das, weil in der Vergangenheit illegaler Einschlag in der Ukraine so gut wie nie durch FSC-Kontrollen aufgedeckt wurde, sondern der Anstoß dazu immer erst von außen kam, entweder durch Investigativ-Journalisten oder Umwelt-NGOs. Was aber bringt eine Prüfung, wenn die Prüfer von alleine kaum etwas finden?
Die Zweifel am FSC-System wachsen, da die Prüfer auch keinen Anstoß daran nahmen, als gegen einzelne Mitarbeiter jener Staatsforstbetriebe, die VGSM beliefern, Ermittlungen wegen Korruptionsverdachts eingeleitet wurden. Trotz der Versäumnisse musste keines der Glieder dieser FSC-Kette, die am Ende IKEA erreicht, befürchten, jenes wertvolle Zertifikat zu verlieren, das ihnen den lukrativen Export des Holzes sichert. Eine mögliche Ursache könnte der Interessenkonflikt sein, der dem FSC-System innewohnt. Denn immerhin sichern hauptsächlich die Firmen, die das Gütesiegel tragen, mit ihren jährlichen Beiträgen die Existenz des FSC. Umgekehrt besitzt FSC jene Prüfgesellschaft, die die unabhängigen Zertifizierer der FSC-Mitglieder überwacht. Die Geprüften bezahlen also nicht nur ihre Prüfer, sondern auch die „Prüfer der Prüfer“ werden letztendlich von den Geprüften bezahlt.
Konkret umgelegt auf die Ukraine bedeutet das etwa, dass drei private Zertifizierungsfirmen für die FSC-Prüfungen bei den regionalen Forstgesellschaften des Staates sorgen und von diesen dafür bezahlt werden. Es braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, dass die strengste dieser Firmen nicht unbedingt die mit den meisten Kunden sein wird. Das gilt es zu bedenken, wenn IKEA als Gründungsmitglied des FSC nun verspricht, fortan seinen gesamten Holzbedarf aus zertifizierten Wäldern zu decken. So löblich diese Nachhaltigkeitsinitiative sein mag, so fehleranfällig bleibt das System dahinter.
„Denn mit unseren Recherchen stießen wir vermutlich nur auf die Spitze des Eisbergs“, sagt Earthsight-Direktor Sam Lawson, „VGSM und die dortige Forstgesellschaft sind nicht der faule Apfel im sonst guten Korb, sondern typische Vertreter ihrer Gattung in der Ukraine, vermutlich gibt es sogar weitaus schlimmere. IKEA kauft im Vergleich zur Ukraine noch viel mehr Holz aus ähnlich korrupten Ländern wie Russland. Es gibt nur einen Grund, warum ähnliche Unstimmigkeiten dort bislang nicht aufgedeckt wurden: Keiner hat dazu noch recherchiert. IKEA weiß sehr wohl, dass FSC Probleme hat. Indem es das Gütesiegel aber zur Expansion in so korrupte Länder trieb, hat es diese eher noch vergrößert und bislang seine Schlagkraft nicht geltend gemacht, um die fundamental nötigen Reformen des FSC-Systems anzustoßen.“
Was alles erst passieren muss, bevor eine Firma ihr FSC-Zertifikat verliert, beweist das Beispiel eines österreichischen Giganten. Über Jahre hinweg bissen sich Umweltaktivisten in Rumänien an der Holzindustrie Schweighofer die Zähne aus. Sie verfolgten Lkw um Lkw von der Wildnis bis zum Werkstor, sammelten Material, das zeigte, wie illegales Holz aufs Gelände gelangte und filmten gar versteckt einen von deren Managern, als er zusagte, dieses zu akzeptieren . Und trotzdem geschah nichts. Weder in Rumänien, wo Schweighofer mit seinen Werken den Markt dominiert, noch in der Ukraine, von wo er zu Zeiten des autoritären Präsidenten Wiktor Janukowitsch Holz im Wert von 100 Millionen Dollar bezog. Dessen Forstdirektor hatte über Briefkastenfirmen ein Schmiergeldgeflecht installiert, das ausländischen Unternehmen den Zugang zum Holz sicherte, sofern sie entsprechend einzahlten. Schweighofer wurde in Vorermittlungen vorgeworfen, über seine slowakische Subfirma Geld in dieses System gepumpt zu haben. Erst als die Beweise, aber vor allem der öffentliche Druck, derart erdrückend waren, geriet FSC ins Handeln und entzog Schweighofer schließlich 2016 das Gütesiegel. Bis dahin stand auch eine bekannte Firma auf deren Abnehmerliste: IKEA.
Ein weiterer Zulieferer der Schweden ist ebenso ein heimischer Gigant des Holzes und an seinem Standort im Norden Rumäniens ein direkter Nachbar von Schweighofer – die Tiroler Firma Egger. Mit einem Jahresumsatz von 2,8 Milliarden Euro ist sie der zweitgrößte Spanplatten-Produzent der Welt. Von Schweighofer, die neuerdings lieber HS Timber Group heißt, bezieht Egger Holzabfälle in Form von Sägespänen und fertigt daraus Spanplatten, die auch IKEA brauchen kann. Egger liefert sie zur Weiterverarbeitung etwa an die rumänische IKEA-Subfirma Ecolor, die daraus Laden für das beliebte Stauraumsystem Besta herstellt und auch Platten für das Wandregal Algot fertigt. Lange ließ sich Egger im Monat bis zu 600 Güterzugwaggons voller ukrainischem Rundholz direkt in seine rumänische Fabrik nahe an der Grenze bringen und hat dafür eigens Gleise der russischen Breitspur verlegt. Egger war zu diesem Zeitpunkt einer der Hauptabnehmer von Beregomet, einem Staatsforstbetrieb aus der Region Tschernowitz in der Bukowina. Ein vom damaligen ukrainischen Premier 2018 in Auftrag gegebener Untersuchungsbericht wirft diesem Unternehmen vor, solches Rundholz auch nach Inkrafttreten eines Exportverbots weiter nach Rumänien geliefert zu haben – mit gefälschten Dokumenten und als Feuerholz deklariert. Ein möglicher Abnehmer wird in dem Bericht nicht genannt. Beregomet wurde deswegen zu einer hohen Strafe von 8,5 Millionen Griwna (280.000 Euro) verurteilt.
Der brisante Untersuchungsbericht, der nach seinem Erscheinen rasch in einer Schublade in Kiew verschwand, Addendum aber in voller Länge vorliegt, belegt weiters, dass Beregomet für illegale Abholzungen in Naturschutzgebieten verantwortlich war, die allein in den ersten Monaten des Jahres 2018 einen geschätzten Schaden von 25 Millionen Griwna (830.000 Euro) verursachten. FSC erklärt gegenüber Addendum, dass Beregomets FSC-Zertifikat 2018 jedoch verlängert wurde. Bei einer Überprüfung seien Lösungen für die Probleme dort erarbeitet worden, heißt es. Aktuell laufen jedoch weiter Gerichtsverfahren gegen Verantwortliche der Firma sowie den damaligen Forstdirektor der Region. Dieser wurde auf frischer Tat beim Versuch ertappt, Polizisten zu bestechen, damit sie bei illegalen Rodungen wegschauen. FSC sei dies bekannt, und es würde erneut eine Untersuchung stattfinden, um „die Wurzel dieser Sache“ herauszufinden: „Da das ukrainische Justizsystem aber langsam und undurchsichtig ist, kann dieser Prozess dauern“, heißt es von FSC.
Für Egger scheint dies keinen Grund darzustellen, deswegen die Beziehung zu seinem ukrainischen Zulieferer zu überdenken. Das österreichische Unternehmen erhält von diesem unverändert Holz, nun eben in Form von Hackschnitzeln und Sägespänen. Egger hält gegenüber Addendum fest, Holz nicht direkt von Beregomet oder anderen Staatsforstbetrieben, die nebenbei alle FSC-zertifiziert seien, zu beziehen, sondern Handelsorganisationen zu nützen. Der erwähnte Untersuchungsbericht sei der Firma „bedauerlicherweise nicht bekannt. Die daraus zitierten Vorhaltungen wären allerdings auf das unternehmerische Handeln von Egger ohnehin nicht anzuwenden. Denn das von Egger eingekaufte und verarbeitete Sortiment ist vom Export nicht ausgeschlossen.“ Egger habe zudem „geeignete Maßnahmen zur Risikominimierung getroffen, kann alle erforderlichen Zertifikate und Dokumente zur Holzherkunft bis zum Wald vorlegen und damit die Einhaltung von gesetzlichen oder privaten Zertifizierungsanforderungen nachweisen“. Für IKEA bleibt Egger jedenfalls weiter ein wichtiger Zulieferer. Erst im Jänner dieses Jahres wurde Egger von den Schweden überprüft, heißt es in der Stellungnahme. Und man habe dies „ohne jegliche Beanstandungen bestanden“.
So gelten am Ende alle als Gewinner: IKEA, dessen Umsätze steigen, FSC, das von diesem Wachstum profitiert und seinen Einfluss ausweitet, die Zulieferfirmen, die dadurch gute Geschäfte machen und die illegalen Strukturen, denen es weiter gelingt, ihr Holz in dieses System zu schleusen – nur einer verliert. Der Wald.
Den gesamten Report unseres Recherchepartners Earthsight finden Sie unter: https://earthsight.org.uk/flatpackedforests-en