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Soziale Durchmischung in Wien rückläufig
22. Mai 2018 Wohin Wien? Lesezeit 9 min
Die soziale Durchmischung in Wien hat sich in der Ära Häupl stark verändert. Die Bevölkerungsgruppen entfernen sich räumlich voneinander. Das ist die erste langfristige visuelle Auswertung dieses Trends.
Dieser Artikel gehört zum Projekt Wohin Wien? und ist Teil 1 einer 3-teiligen Recherche.
Bild: Gerald Gartner | Addendum

Wien hat sich seit dem Amtsantritt von Michael Häupl vor knapp 25 Jahren gravierend verändert. Die Bundeshauptstadt ist um fast 350.000 Einwohner (6,5-mal St. Pölten) gewachsen. Der Anteil der Bewohner mit nichtösterreichischer Staatsbürgerschaft ist von 15 auf 28 Prozent geklettert. Und der Akademikeranteil stieg von 9 auf 23 Prozent der Bevölkerung. Das alles birgt die Gefahr für eine stärkere regionale Segregation von Bevölkerungsgruppen. Und so kam es für 186 Wiener Grätzel auch.

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Zwischen 1991 und 2015 hat sich die soziale Durchmischung in 154 der 1.350 Grätzel signifikant verringert. In 32 ist sie gestiegen. Im Hintergrund dieser Analyse liegen Daten über den höchsten Bildungsabschluss jeder Person des Grätzels. Der Bildungsabschluss gilt als gute Annäherung, um das Einkommensniveau abzuschätzen. Es zeigt sich ein klares Muster: Je höher der Bildungsabschluss, desto näher liegt der Wohnort zum ersten Bezirk, dem Stadtzentrum. Je niedriger der Bildungsabschluss, desto weiter wohnt jemand davon entfernt.

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Wissenschaftlern des Wittgenstein-Zentrums und der Uni Wien stellten in einer Untersuchung ebenso fest, dass es einen leichten Trend zur Polarisierung der Bewohner nach Bildungsabschluss kommt. Grätzel mit einer bereits hohen Akademikerquote ziehen weitere Personen mit hohem Bildungsabschluss an. Gegenden, in denen hauptsächlich Menschen mit niedrigem Bildungsabschluss leben, werden dagegen sozial immer durchmischter. Vergleichbar mit anderen europäischen Städten sei das Maß an steigender Segregation überschaubar, meint einer der Studienautoren, Gerhard Hatz. Die Theorie, dass die Globalisierung zu einer polarisierten Gesellschaft in Städten führe, treffe für Wien nicht im gleichen Maß zu, sagt der Forscher der Uni Wien am Institut für Geografie und Raumplanung.

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Höhere Mietpreise fördern Verdrängung

Ein Grund für stärkere Segregation in Innenstadtlagen sind höhere Mietpreise wegen des Lagezuschlags. Dieser wird in vielen Vierteln in besserer Lage von Immobilieneigentümern von den Mietern eingefordert. Zum Zeitpunkt der Einführung des Lagezuschlags belief sich der Unterschied zwischen Gebieten mit dem niedrigsten Zuschlag und jenen mit dem höchsten Zuschlag auf einen Wert von 3,70 Euro pro Quadratmeter. Heute beträgt der Unterschied 10,40 Euro. Diese Zahl hat der Stadt- und Wohnungsforscher Justin Kadi berechnet. Der Preisanstieg sei ein Faktor, warum einkommensschwache Haushalte seltener innerhalb des Wiener Gürtels leben.

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EU-Staaten im, Drittstaaten außerhalb des Gürtels

Eine ähnliche Darstellung wie für die Bildungslandschaft zeigt sich auch für die Verteilung der Bewohner Wiens nach Staatsangehörigkeit. Bürger aus westeuropäischen und den älteren Mitgliedstaaten der Europäischen Union finden sich vor allem innerhalb des Gürtels. Bürger aus vormals jugoslawischen Ländern und der Türkei sowie weiteren Drittstaaten leben tendenziell außerhalb des Gürtels.

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Slowenien, Kroatien, Serbien, Bosnien-Herzegowina, Montenegro, Kosovo und Mazedonien

„Das Stadtwachstum ist eine große Herausforderung. Wir haben unsere Methodik ausgeweitet, um weiter leistbaren Wohnraum zur Verfügung zu stellen. Die Wohnkosten sind zwar in Wien einigermaßen stark gestiegen, aber nicht in so astronomische Höhen wie in anderen Großstädten“, sagt Andreas Trisko. Er ist Leiter der Abteilung für Stadtentwicklung und Stadtplanung in Wien.

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Die stärkere Segregation der Wiener Grätzel hängt auch mit dem Verhalten von Zuwanderern bei der Wohnungssuche zusammen. Sie suchen sich ihre Bleibe gerne dort, wo bereits viele Menschen wie sie selbst leben. Das kann beispielsweise die Nationalität oder auch den Lebensstil betreffen. „Hochqualifizierte Zuwanderer ziehen in Wohnräume mit anderen Hochqualifizierten. Sie suchen ein Milieu, das ihrem eigenen entspricht“, sagt Forscher Hatz.

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Stadt greift ein

Die nach unserem Maß am stärksten segregierte Wohngegend ist jene rund um das Wiener WUK. Im Umfeld des dieses Zentrums für alternative Kunst gibt es wienweit am wenigsten soziale Durchmischung. Im Jahr 2015 waren sieben von zehn Einwohnern Akademiker. Zahlreiche Universitäten und das Allgemeine Krankenhaus (AKH) in der Nähe sind der Hintergrund für dieses demografische Bild der Bewohner.

Damit eine starke Segregation wie dort nicht in einer Vielzahl von Wohngebieten auftritt, greift die öffentliche Hand in den Wohnungsmarkt ein. Mit über 210.000 Gemeindewohnungen ist die Stadt Wien selbst der größte Wohnungseigentümer. Erklärte sozialdemokratische Ziele: leistbares Wohnen für alle und soziale Durchmischung. Im Gegensatz zu anderen europäischen Städten sind Sozialbauten nicht nur in Arbeiterbezirken zu finden. Auch in wohlsituierten Wohngegenden, wie Währing, Döbling oder Hietzing, hat die Stadt einst gebaut. Folglich müssten also Grätzel mit Gemeindebauten tendenziell sozial durchmischter sein. Aber sind sie das auch?

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Nein.

Nach unserer stichprobenartigen Analyse nicht. Dafür haben wir Grätzel ausgewählt, in denen sich zumindest 170 Gemeindewohnungen befinden, und die soziale Durchmischung darin untersucht. In den 97 ausgewählten Wohngebieten ist die soziale Durchmischung nicht höher als in Wien insgesamt.

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In der Großfeldsiedlung in Floridsdorf befinden sich beispielsweise über 5.500 Gemeindewohnungen, aber die soziale Durchmischung ist dort nicht stark ausgeprägt. Drei von vier Grätzelbewohnern haben einen Pflichtschul- oder Lehrabschluss. „Insgesamt kann das daran liegen, dass Familien der Ober- und Mittelschicht gar nicht im Gemeindebau leben möchten, weil ihnen das Milieu nicht zusagt. Oder dass sie bei den Wohnungsvorschlägen, die sie im Antragsprozess von der Stadt Wien erhalten, wählerischer sind. Beispielsweise dass die Lage zu weit vom Stadtzentrum entfernt ist. Einkommensschwache Familien sind viel eher auf diesen Wohnraum angewiesen und deshalb ist die soziale Durchmischung mit Akademikern dann entsprechend niedrig“, sagt Gerhard Hatz, Forscher am Institut für Geografie und Regionalforschung der Uni Wien. Zudem sind die Zugangsbeschränkungen für Gemeindewohnungen gelockert worden, weshalb mehr Zuwanderer geförderten Wohnbau in Anspruch nehmen können.

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Eine gewisse Differenzierung ist unvermeidlich.
Andreas Trisko, Leiter der Wiener Stadtentwicklung und Stadtplanung

Für Stadtentwicklungsleiter Andreas Trisko sind die Segregationstendenzen nicht überraschend: „Eine gewisse Differenzierung des Wohnorts nach den finanziellen Möglichkeiten der Haushalte ist unvermeidlich und auch unbedenklich.“ Dass gerade in Viertel mit vielen Gemeindebauwohnungen eine geringere soziale Durchmischung gegeben ist, hält er ebenso nicht für verwunderlich: „Die soziale Durchmischung muss auch dort passen, entsprechend dem Wiener wäre auch dort absolut wünschenswert. Klar ist aber auch, dass sich eine echte Durchmischung immer erst mit der Zeit einstellt: gerade wenn Wohnhausanlagen attraktive Orte zum Leben sind ziehen relativ wenige der Erstbezieher weg. So kann die Bewohnerstruktur jahrzehntelang stabil bleiben.“

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Wien ist nicht Paris

Die Mieten der Gemeindewohnungen mögen im Vergleich zum privaten Mietmarkt für die Bewohner zwar erschwinglich sein, aber die soziale Durchmischung verändert sich durch den Gemeindebau in diesen Fällen nicht. Wenn die Wiener Sozialdemokraten allerdings davon sprechen, dass Wien nicht New York, London oder Paris sei, dann ist das korrekt. Ghettos oder sogenannte Gated Communities gibt es nicht – eine Insel der Seligen ist die Hauptstadt aber auch nicht mehr. 

Korrektur am 23.5.2018: Wir haben fälschlicherweise an einer Stelle angegeben, dass wir Gemeindebaugrätzel mit mehr als 500 Gemeindewohnungen in einer Kategorie zusammengefasst haben. Richtig ist, dass wir ab 170 Gemeinedewohnungen eine Kategorie gebildet haben. Ursache für den Fehler war, dass wir mehrere Varianten durchgerechnet haben, um unser Ergebnis zu prüfen. Danke an Leserin Gerlinde Gutheil für den Hinweis!

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Methodik

Was ist dieser Index für soziale Durchmischung genau?
Um soziale Durchmischung zu berechnen, haben wir den „Multigroup Entropy Index“ verwendet. Dieser vermisst die geografische Verteilung bestimmter Bevölkerungsgruppen in einem Gebiet. Je konzentrierter eine Bevölkerungsgruppe ist, desto geringer die soziale Durchmischung des Grätzels. Je ausgeglichener eine Bevölkerungsgruppe in einer Stadt verteilt ist, desto höher ist der Wert für soziale Durchmischung. Für unseren Index haben wir den höchsten Bildungsabschluss der Wohnbevölkerung herangezogen. Die Bevölkerung wurde nach Lehre, Pflichtschulabschluss, Matura und Akademiker eingeteilt. Leben also beispielsweise überproportional viele Akademiker in einem Grätzel, dann ist die soziale Durchmischung geringer. Der Index schließt Wohngemeinden aus, in denen weniger als zehn Personen je Bildungsgruppe leben. Das soll verhindern, dass geringe Veränderungen, wenn beispielsweise eine einzelne Akademikerfamilie wegzieht, den Index stark verzerren.

Wie seid ihr für die Berechnung der sozialen Durchmischung in Grätzeln mit Gemeindewohnungen vorgegangen?
Wiener Wohnen stellt hier eine Beschreibung aller Gemeindebauten zur Verfügung. Wir haben alle vermerkten Adressen geocodiert und anschließend einem Zählgebiet zugewiesen. Für den Vergleich haben wir nur Grätzel gewählt, in denen mehr als 170 Gemeindewohnungen zu finden sind. Mit dieser Auswahl haben wir den Index der sozialen Durchmischung in ganz Wien verglichen.

Was sind eure Quellen?
Die Daten zu Bildungsabschlüssen und der Staatsangehörigkeit kommen aus einer Spezialauswertung der Wiener Magistratsabteilung für Statistik, Arbeit und Wirtschaft (MA 23). Grundlage dafür waren die Volkszählungen (bis zum Jahr 2011) und danach die abgestimmte Erwerbsstatistik der Statistik Austria.

Was sind die Schwächen der Analyse?
Soziale Durchmischung in einem Grätzel muss nicht heißen, dass ein aktives Miteinander der Bevölkerungsgruppen stattfindet. Diese quantitative Analyse gibt keinen Aufschluss darüber, ob die Gruppen miteinander leben oder nebeneinander. Außerdem kann bei Betrachtung kleiner geografischer Einheiten der Fall auftreten, dass starke Segregation ausgewiesen wird, obwohl das auf einer höheren Ebene nicht so wäre. Besteht beispielsweise ein Grätzel also aus einem Gemeindebau, und auf der anderen Seite der Straße ist der Beginn eines Villenviertels in einem anderen Grätzel, dann wären das auf kleinregionaler Ebene zwei Wohngegenden mit geringer sozialer Durchmischung. Auf einer höheren, weniger genauen regionalen Ebene wäre es aber ein gut durchmischtes Wohngebiet.

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